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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
dass Österreich „sehr daran interessiert [sei], daß diese Prozesse ruhig verlaufen
und sich in den europäischen Rahmen einordnen“. Österreich sei „gegen [eine]
rasche Vereinigung“.308
In den diplomatischen Berichten nach Wien stand die von Modrow vermittelte
unabsehbare weitere Entwicklung insbesondere in der DDR im Vordergrund.309
Die Gespräche und Verhandlungen am „Zentralen Runden Tisch“ in der DDR
waren ins Stocken geraten, was die österreichische Diplomatie auf den bereits
einsetzenden ersten echten Wahlkampf in der DDR zurückführte. Ein Sturz der
Regierung Modrow wurde jederzeit für möglich gehalten. Zudem mahnte die Bot-
schaft in Ost-Berlin seit Jahresbeginn ein, dass es wichtig wäre, nicht nur die poli-
tischen und wirtschaftlichen Kontakte zur DDR zu pflegen, sondern auch die, die
ostdeutsche Gesellschaft direkt betreffenden Felder zu bedienen – nicht zuletzt
da der Bevölkerung das Vertrauen in ihre derzeitige politische Führung fehle.310
Die Vorbereitungsmaterialien für Modrows Gegenbesuch in Österreich, der
bereits am 26. Jänner 1990 stattfand, zeigen ebenfalls deutlich, dass man seitens
der DDR von einem starken österreichischen Interesse am Erhalt der DDR aus-
ging. Auch die österreichischen Sorgen bezüglich der möglichen Rückwirkungen
auf die eigenen EG-Beitrittsambitionen waren bewusst. In diesem Zusammen-
hang wollte man kalmierend wirken.311 Zudem beschworen DDR-Vertreter Öster-
reich, das wirtschaftliche Feld nicht alleine der Bundesrepublik zu überlassen312
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eine Aufforderung, der man während des erneut stark wirtschaftlich geprägten
Besuch Modrows in Wien gerne nachkam. Jedoch sollten auch neue Felder in den
Beziehungen eine Belebung erfahren. So wurde beispielsweise die Aufhebung des
Visumszwangs angestrebt und im Zuge des Besuchs auch vereinbart.313
Als das Gespräch der Regierungschefs auf die Frage der Vereinigung der bei-
den deutschen Staaten kam, verhielt sich Bundeskanzler Vranitzky angesichts der
fortschreitenden Entwicklung bei gleichzeitig noch unklarer Haltung der Sowjet-
union vorsichtig:
„Falls sich die Deutschen für eine Vereinigung der beiden Staaten entscheiden sollten,
so müsse man das respektieren. Österreich sei aber an solchen Rahmenbedingungen in-
teressiert, die Europa nicht in Gefahr bringen und das bestehende Gleichgewicht nicht
308 Gesprächsempfehlungen. Antrittsbesuch des Botschafters der Republik Österreich, Dr. Erich
Binder, beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Dr. Hans Modrow, am 24. Januar
1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 31.
309 Siehe Dok. 110.
310 Siehe Dok. 105 und 107. Siehe zudem: „Runder Tisch“, weiter Schwierigkeiten (Info), Wun-
derbaldinger an BMAA, Berlin (Ost), 4. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol. 1990, GZ.
43.03.00/3-II.3/90; Modrows Lage der Nation (Info), Wunderbaldinger und Graf an BMAA,
Berlin (Ost), 11. Jänner 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 43.03.00/4-II.3/90.
311 Fischer übersandte diese an Modrow, Berlin, 23. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC
20/4961, Bl. 17.
312 Siehe Dok. 109.
313 Siehe Dok. 111. Zum Besuch ausführlicher Gehler, Österreich, die DDR und die Einheit
Deutschlands, S. 437–443; Graf, Österreich und die DDR, S. 596–601.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99