Seite - 78 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Die österreichisch-sowjetischen diplomatischen Interaktionen seit Jahresbe
ginn
hatten keineswegs auf eine sowjetische Haltungsänderung hingedeutet.318 Auch
im größeren Rahmen des KSZE-Europa schien der österreichischen Diplomatie
unklar, wann und unter welchen Bedingungen die Sowjetunion der deutschen
Einheit zustimmen könnte.319 Ende Jänner 1990 vermeldete die österreichische
Botschaft in Moskau jedoch nach Wien: „Sowjetischerseits scheint man erkannt
zu haben, dass die ‚Zeit davonzulaufen drohe‘. Die Vereinigungstendenzen in der
DDR werden überhand nehmen und die S[owjetunion] wird dies nolens volens
zur Kenntnis nehmen müssen.“ Zu diesem Zeitpunkt ging man davon aus, dass
die Sowjetunion so lange wie möglich an der „Eigenständigkeit der DDR“ fest-
halten werde; eine unflexible Position aber aufgrund der Entwicklungen in der
DDR nicht auf Dauer durchzustehen sein werde. Daher würde Moskau die Vier-
mächte-Verantwortung für Deutschland hervorkehren, habe aber „im Augenblick
offensichtlich auf offizieller Ebene kein Konzept, wie diese mit dem Willen der
Deutschen selbst zu vereinbaren ist“.320 Mit dieser Lagebeurteilung hatte man den
Nagel auf den Kopf getroffen.
Aufgrund der immer offenkundiger in Richtung deutsche Einheit weisenden
Stimmung in der DDR-Bevölkerung lancierte Modrow Anfang Februar nach
Rücksprache mit Moskau seinen bereits in Wien angedeuteten Plan einer – aus
Sicht der Ostabteilung bereits sehr weitgehenden – Konföderation zwischen den
beiden deutschen Staaten,321 der auch eine Neutralitätsdimension hatte.322 Diese
wurde im Westen abgelehnt und auch Österreich fühlte sich – erneut in einer
„kleinen“ Modellfalldebatte angekommen – sichtlich unwohl.323 Am Ballhaus-
platz war die Position dazu eindeutig. Nachdem der sowjetische Botschafter Schi-
kin gegenüber Mock die DDR-Konzeption als „realistisch“ bezeichnet und sich
nach der Haltung Österreichs dazu erkundigt hatte, erwiderte der öster reichische
Außenminister, dass Österreich „für sich keine besondere Beziehung zu diesem
Problem“ sehe, „welche über dessen Bedeutung für alle europäischen Staaten hin-
ausgehen würde“. Schikin sprach Mock daraufhin auf dessen „kritische Bemer-
kungen […] zur Frage der Neutralisierung Deutschlands“ an „und wies darauf
hin, daß die Sowjetunion den Eintritt der DDR in die NATO nicht hinnehmen
Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990, Berlin 2015, S. 13–108, hierzu S. 58–60.
Kurz und prägnant auch György Dalos, Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie,
München 2011, S. 215–217.
318 Siehe Dok. 106.
319 Siehe Dok. 108.
320 Siehe Dok. 114.
321 Siehe Dok. 116.
322 Siehe Dok. 115. Gabriele Lindner, Die Eigenart der Implosion. Lange Genese bis zur Modrow-
Regierung und Rundem Tisch in der DDR, Berlin 1994.
323 Gehler, Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands, S. 444–446; idem, Modellfall?,
S. 1230–1231; Oliver Rathkolb, Deutsches Unbehagen an der Neutralität Österreichs 1955
und 1990. Ein „unhistorischer“ Vergleich mit verblüffenden Parallelen, in: idem / Georg
Schmid / Gernot Heiß (Hg.), Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhält-
nis, Salzburg 1990, S. 85–92.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99