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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
könnte“. Mock stimmte einerseits „zu, daß keine Verschiebung des Gewichtes
der militärischen Allianzen erfolgen sollte. Andererseits wäre eine Entlassung
Deutschlands aus seinen Bindungen durch Neutralisierung gefährlich.“ Nachdem
Schikin erneut „auf die Verantwortung der vier Alliierten“ hingewiesen hatte,
plädierte Mock dafür, dass nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene „System der
Patronanz über Deutschland in einen Status der Normalität“ zu überführen.324
Modrows Plan wurde ohnehin rasch von den Entwicklungen überholt. Der
Exodus aus der DDR und die Übersiedlerzahlen in die Bundesrepublik drohten
zu einem echten Problem für Bonn zu werden, weshalb man zunehmend auf eine
rasche Realisierung der deutschen Einheit drängte. Sowohl die äußeren als auch
die inneren Aspekte stellten aber noch ein „Minenfeld“ dar.325 Der Übersiedler-
strom von Ost nach West riss nicht ab und Modrow konnte von seinem Besuch
in der Bundesrepublik am 13./14. Februar 1990 nur wenig Zählbares nach Hause
bringen. Die Bundesrepublik wollte die nicht frei gewählte DDR-Regierung nicht
alimentierten,326 sah sich aber dennoch zum Handeln gezwungen. Mit dem im
Februar erfolgten Angebot einer „Wirtschafts- und Währungsunion“ hatte Kohl
im deutschen Einigungsprozess endgültig die Initiative übernommen.327
Ende Februar 1990 war die deutsche Einheit das wichtigste – ja nahezu alles
bestimmende – internationale Gesprächsthema. Im Dreieck Bonn, Moskau und
Washington ging es in der ersten Februarhälfte, als Gorbatschow am 10. Februar
im Kreml gegenüber Kohl erstmals grundsätzlich grünes Licht für die unauf-
haltsam scheinende deutsche Einheit gegeben hatte, insbesondere um die Frage
der NATO-Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands und deren Ausgestaltung.
Dessen war man sich am Ballhausplatz bewusst, auch wenn man dort natür-
lich keine Detailkenntnis über die heute im Blick auf die NATO-Osterweiterung
so umstrittenen bilateralen Gespräche dieser Dreieckskonstellation hatte.328 Die
NATO-Mitgliedschaft Deutschlands stand zwar aus Wiener Sicht nicht in Frage,
aber die Art und Weise der Inkorporierung des Gebiets der DDR unter sowje-
tischer Zustimmung schien offen – wie auch die Zukunft der Militärbündnisse
insgesamt.329 Das amerikanische Misstrauen gegenüber Genscher in dieser Frage
324 Siehe Dok. 117.
325 Siehe Dok. 118.
326 Siehe Dok. 123.
327 Siehe dazu Dok. 125, 132. Hanns Jürgen Küsters, Das Ringen um die deutsche Einheit. Die
Regierung Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90, Freiburg im Breisgau 2009,
S. 155–159; ausführlich: Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial-
union. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998.
328 Siehe dazu in allen Details: Mary Elise Sarotte, 1989: The Struggle to Create Post-Cold War
Europe, rev. ed., Princeton 2014. Zur Kontroverse um die Legende vom Wortbruch. Die
NATO-„Osterweiterung“ – eine nicht eingehaltene Zusicherung des Westens an Russland?,
siehe Michael Gehler, Revolutionäre Ereignisse und geoökonomisch-strategische Ergebnisse:
Die EU- und NATO-„Osterweiterungen“ 1989–2015 im Vergleich (Zentrum für Europäische
Integrationsforschung Discussion Paper C 239), Bonn 2017, S. 66–81.
329 Siehe Dok. 119–120.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99