Seite - 87 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Die Bundesrepublik registrierte die österreichische Haltung zur deutschen Frage
Ende April uneingeschränkt positiv und bekräftigte ihre Unterstützung für den
von Österreich angestrebten EG-Beitritt
– ein Drängen auf eine beschleunigte Be-
handlung des österreichischen Beitrittsgesuchs hielt man aber für unangebracht.
In den Spitzenkontakten der Außenministerien wurde Österreich über den Eini-
gungsprozess ausführlich und detailreich informiert. Durch Gespräche mit Ver-
tretern des Bundeskanzleramts kannte man auch die bundesrepublikanischen
Divergenzen recht gut.362 Im „Zwei-plus-Vier“-Prozess selbst war Österreich nur
außenstehender Beobachter. Botschafter Bauer wurde aber sowohl im Auswärti-
gen Amt als auch durch Kontakte zum Bundeskanzleramt regelmäßig über die
Fortschritte der Verhandlungen informiert.
Das erste „Zwei-plus-Vier“-Außenministertreffen fand am 5. Mai 1990 in Bonn
statt. Auf diesem einigte man sich vor allem über das weitere Vorgehen, wie der
an den Verhandlungen führend mitwirkende Spitzendiplomat des Auswärtigen
Amts, Wilhelm Friedrich Höynck, den österreichischen Botschafter Bauer infor-
mierte. Die Hauptfrage blieb die Moskauer Haltung zur NATO-Mitgliedschaft
Deutschlands, die aber nicht Gegenstand der „Zwei-plus-Vier“-Gespräche sein
sollte. Dem sowjetischen Bestreben, den unaufhaltsamen inneren Einigungspro-
zess vom äußeren und durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs blockier-
baren zu entkoppeln, wollte man entgegenwirken.363 Diese Frage beschäftigte
auch das Departement of State, wo man nach wie vor nicht sicher war, wie weit
Genscher bereit war, seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse in Fragen
der Bündniszugehörigkeit entgegenzukommen.364 Die Reise Kohls und Genschers
nach Washington Mitte Mai diente dann der amerikanisch-bundesdeutschen Ab-
stimmung365 für das bevorstehende Gipfeltreffen von George H. W. Bush mit
Gorbatschow zwei Wochen später. Wie weitgehend sich der sowjetische Präsident
dort bereits hinsichtlich der Akzeptanz einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands
geäußert hatte, wusste die österreichische Diplomatie freilich nicht. Aber es war
offenkundig, dass nicht nur Erfolge bei den Abrüstungsverhandlungen, sondern
auch eine Neuausrichtung des atlantischen Bündnisses den Schlüssel zur Lösung
darstellen könnten.366
Nachdem die Frage der „Entkoppelung“ vom Tisch war, erschien dem Ball-
hausplatz in einer Analyse vom 11. Juni „vorsichtiger Optimismus gerechtfer-
tigt“: „Entsprechende Konzessionen des Westens lassen die Zustimmung der So-
wjetunion zur NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands möglich erscheinen.“
Unterdessen war die zwischen Bonn und Ost-Berlin ausgehandelte Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion unter Dach und Fach gebracht worden und sollte
am 1. Juli 1990 in Kraft treten. Als „wesentliche Maßnahme“ betrachtete man in
362 Siehe Dok. 146 und 153.
363 Siehe Dok. 149.
364 Siehe Dok. 150.
365 Siehe Dok. 152.
366 Siehe Dok. 154.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99