Seite - 88 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Wien „die Einführung der D-Mark in der DDR“. Den Zweck und Effekt der Union
wertete man wie folgt: „Durch die wirtschaftliche Vereinigung soll die Entwick-
lung zum gesamtdeutschen Staat irreversibel gemacht werden.“367 In einem Brief
an Kohl rühmte Mock die „Richtigkeit der Perspektiven für die deutsche Einheit“,
die der deutsche Kanzler im vergangenen November entworfen hatte, gratulierte
„anläßlich dieses entscheidenden Schrittes zur staatlichen Einheit des deutschen
Volkes herzlichst“ und übermittelte die „besten Wünsche für den erfolgreichen
Abschluß des Verfahrens zur Herstellung der Einheit Deutschlands“, die er als
einen „entscheidende[n] Beitrag zur wachsenden Einheit Europas“ wertete.368 Für
Österreich bedeutete die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion freilich auch,
sich im Handel mit der DDR auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.369
Bereits Mitte Juni hatten der für Ostfragen zuständige Kanzler-Berater Horst
Teltschik und das Auswärtige Amt Botschafter Bauer übereinstimmend ihre Ein-
schätzung mitgeteilt, die Sowjetunion „akzeptiere [die] unbeeinflussbare Unaus-
weichlichkeit deutscher Einheit und dränge deshalb (weil auch Gorbatschow kein
DDR-Chaos wolle)
selbst auf rasche Klärung der inneren Aspekte“. Bauers Bericht
zeigt, dass man in Bonn Gorbatschows Probleme genau erkannt hatte. Man wusste
welche Bedeutung deutscher Wirtschaftshilfe auf dem Weg zur Einheit zukom-
men würde. Gleichzeitig legten Bauers Gesprächspartner auch ein bemerkenswer-
tes Bewusstsein für das Gewicht eines geeinten Deutschlands in Europa an den
Tag, weshalb man dessen Einbettung in ein vertieft-integriertes Europa betrieb.370
Aus DDR-Perspektive sah die Wertung des Stands der Dinge und der bundes-
deutschen Politik nach dem zweiten „Zwei-Plus-Vier“-Außenministertreffen am
22. Juni 1990 in Ost-Berlin, das keine wesentlichen Fortschritte gebracht hatte,
anders aus. Botschafter Erich Binder, seit Anfang 1990 in der DDR eingesetzt,
schloss seinen Bericht mit dem Eindruck: „Die BRD sei der Meinung, dass die
heutige wirtschaftliche Lage der Sowjetunion so schlecht sei, dass man ihr die
Zustimmung zur Vereinigung einfach ‚abkaufen‘ könne. Maßgeblich sei nur der
Preis.“371 Sowohl Binders als auch Bauers Einschätzung reflektieren eine gewisse
Identifikation mit den Positionen des jeweiligen Empfangsstaates, wobei Bauer
aufgrund seiner früheren Erfahrungen als Botschafter in Ost-Berlin und als Lei-
ter der Ostabteilung des Ballhausplatzes auch aus Bonn die DDR-Sicht stärker in
seine Berichte zu integrieren vermochte.372
367 Siehe Dok. 155
368 Mock an Kohl, Wien, 2. Juli 1990, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/167-II.1/90.
369 Siehe Dok. 160, Anm. 17 und Dok. 165.
370 Siehe Dok. 156.
371 Siehe Dok. 157.
372 Zur Sicht Bauers zudem erhellend: Friedrich Bauer, „Der Sinn der Kulturpolitik, als noch der
Eiserne Vorhang da war, war in diesen kleine Löcher zu bohren“, in: Gehler / Brait (Hg.), Am
Ort des Geschehens, S. 159–183; und Bauer im Interview mit Michael Gehler „Ich habe bis
heute größere Sympathien für Deutsche in der ehemaligen DDR“, in: Michael Gehler / Hin-
nerk Meyer (Hg.), Deutschland, der Westen und der europäische Parlamentarismus (Hildes-
heimer Europagespräche I), Hildesheim / Zürich / New York 2011, S. 52–88.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99