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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Im Mai wurden die österreichisch-ostdeutschen Beziehungen zur DDR noch
um ein Kuriosum ergänzt. Obwohl sich das Ende der DDR abzeichnete, machten
sich der österreichische Vizekanzler Josef Riegler (ÖVP) und Lothar de Maizière
noch daran, zumindest zum Schein Parteikontakte zwischen der ÖVP und der
CDU-Ost zu etablieren.394 Die beiden waren im Mai trotz de Maizières „sehr
gedrängten Terminkalenders“ anlässlich des World Economic Forum in Berlin
zu einem Meinungsaustausch zusammengetroffen, den der DDR-Ministerprä-
sident zu einer ausführlichen Darlegung der eigenständigen Politik seiner Re-
gierung nutzte und Zweifel am Vereinigungswillen der ostdeutschen Bevölke-
rung äußerte.395 Daraufhin hatte Riegler den Leiter der Politischen Akademie der
ÖVP Andreas Khol damit beauftragt, die vereinbarte Intensivierung der Kontakte
zwischen den beiden Parteien in Angriff zu nehmen. Zudem lud er de Maizière
zur Eröffnung der Salzburger Festspiele nach Österreich ein,396 was dieser dan-
kend annahm.397 Da Rieglers Vorgehen nicht mit der CDU abgestimmt war,
sorgte es für eine „beträchtliche Irritation“ in Rieglers Verhältnis zu Kohl
– nicht
zuletzt, da dessen Beziehung zu de Maizière zu jener Zeit eben „nicht frei von
Spannungen war“.398
Kurz nach dem EG-Gipfel in Dublin Ende Juni 1990 gab Lothar de Maizière
dem Brüsseler Korrespondenten der Tageszeitung Die Presse, Otmar Lahodynsky,
ein Interview. Darin betonte er vor dem Hintergrund der anstehenden Wäh-
rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, dass Moskaus Führung die deutsche Ein-
heit nicht mehr aufhalten, „nur noch erschweren“ könne. Bei diesem Gespräch im
Kölner Maritim-Hotel hatte de Maizière zwei Mitarbeiterinnen im Gefolge. Seine
Pressesprecherin war damals Angela Merkel. Zehn Jahre später traf Lahodynsky
Merkel wieder bei einem Interview in Berlin. Sie war bereits zur CDU-General-
sekretärin avanciert und wollte nicht an die Zeit als Pressesprecherin erinnert
werden: „Da wechselte sie ganz schnell das Thema“, so Lahodynsky.399
Im Sommer 1990, als der Weg für die Einheit endgültig frei geworden war, ab-
solvierte de Maizière am 25. Juli noch einen offiziellen Besuch in Österreich.400 Es
394 Vgl. dazu Helmut Wohnout, Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs bis zur Anerken-
nung Sloweniens und Kroatiens. Österreichs Außenminister Alois Mock und die europä-
ischen Umbrüche 1989–1992, in: Andrea Brait / Michael Gehler (Hg.), Grenzöffnung 1989.
Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich, Wien / Köln / Weimar 2014,
S. 185–219, hier S. 200.
395 Siehe Dok. 151.
396 Riegler an de Maizière, Wien, 21. Mai 1990, BArch, Abt. DDR, DC 20/6075, Bl. 66.
397 De Maizière an Riegler, Berlin, 28. Juni 1990, BArch, Abt. DDR, DC 20/6075, Bl. 65; profil,
12. Oktober 2009 und 19. Oktober 2009.
398 Wohnout, Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs, S. 200 und Fußnote 47.
399 Wir danken Otmar Lahodynsky (seit 1998 beim Nachrichtenmagazin profil und derzeit Prä-
sident der Association of European Journalists) für diese Auskunft. Für das Interview siehe
„Wer immmer in Moskau das Sagen hätte“. DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière hält
die deutsche Vereinigung für unumkehrbar, höchstens erschwerbar, in: Die Presse, 27. Juni
1990, S. 3.
400 Siehe Dok. 160 und 165.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99