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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
tritt.‘ Ich war sehr entrüstet und habe ihm gesagt: ‚Wir sind nicht der dritte deutsche
Staat, sondern der erste und einzige österreichische Staat.‘ Darauf hat er gesagt: ‚Excusé!
Excusé! Ich hab’s nicht so gemeint‘, aber ich glaube, er hat es so gemeint.“415
Erst am 1. August 1991 bekam der Beitrittswerber Österreich von der EG-Kom-
mission ein positives Zeugnis ausgestellt, die Beitrittsverhandlungen begannen
im Februar 1993. Während die in den Jahren 1993/94 abliefen, unterschieden
sich die Positionen der EU-Mitglieder zum österreichischen Anliegen kaum.
Sie waren überwiegend positiv und unterstützend, wobei auch die anderen Mit-
bewerber einkalkuliert werden mussten. Einer Auflistung des österreichischen
Außenministeriums über die Einstellungen ist zu entnehmen, dass keine größe-
ren Schwierigkeiten für die Beitrittsverhandlungen zu erwarten waren. Belgien
war inzwischen „sehr positiv“ gestimmt, da es sich eine Stärkung der Positionen
der kleineren EG-Mitgliedstaaten erwartete. Was die Weiterentwicklung der EU
anging, vertrat Belgien den Standpunkt, dass die Vertiefung der Integration nicht
behindert werden dürfe, d. h. dass der gemeinsame Rechtsbestand „einschließlich
politischer Finalität“ zu übernehmen sei. Übergangsregelungen seien akzeptabel,
Ausnahmen jedoch nicht, was auch den EWR betraf. Für Dänemark hatte die Er-
weiterung um die nordischen Kandidatenländer „absolute Priorität“. Österreich
erschien dennoch als „interessanter Partner“ wegen seiner Sozial- und Umwelt-
politik sowie dem Gedanken der Subsidiarität und der Menschenrechte. Däne-
mark sah vor allem den Vorteil der „Stärkung der nordischen Komponente“ und
„die Milderung der periphären Lage“. Institutionelle Regelungen bedurften aus
Kopenhagener Sicht vorläufig keiner Anpassung.416
Die Bundesrepublik Deutschland trat nach Erkundungen am Ballhausplatz
„mit größtem Nachdruck“ für die gesamte Erweiterung ein. Bonn empfahl Öster-
reich, dass es seine Positionen auf realistische Forderungen zu Bereichen beschrän-
ken solle, in denen dies unabdingbar sei: Übergangsregelungen seien akzeptabel,
jedoch keine permanenten Ausnahmeregelungen denkbar. Angesichts der be-
vorstehenden Erweiterung waren spanische Forderungen hinsichtlich der Auf-
stockung des EG-Kohäsionsfonds für strukturschwache Regionen zu erwarten.
Das eher reservierte Spanien war seit dem Wien-Besuch von Minister präsident
Felipe González Österreich gegenüber gewogener. Im Falle Frankreichs war die
Haltung ähnlich. Es sollte aus der Sicht von Paris jedenfalls „keine Aufweichung
des Integrationsprozesses“ geben. Übergangsfristen sollten nach französischer
Auffassung „kurz gehalten werden“.417
415 Franz Vranitzky, „Es gibt in der Politik sowieso keine Patentlösungen, wie auch 1989/90 keine
endgültigen Lösungen möglich waren“, in: Gehler / Brait (Hg.), Am Ort des Geschehens in
Zeiten des Umbruchs, S. 351–352.
416 [Undatierte] Gegenüberstellung, Positionen der EG-MS [Mitgliedstaaten] zu den laufenden
Beitrittsverhandlungen [1993/94]. Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Bot-
schafter Dr. Hans Winkler danken wir die Einsichtnahme.
417 Ebd.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99