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Anfang 1985: Grundbericht Österreich und die DDR
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Dok. 1
lingsaustausches und der Familienzusammenführung langsam quantitative Fort-
schritte erzielen.19
Andererseits waren die Beziehungen von den berühmten vier Gera-Forderun-
gen der DDR (Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, prak-
tische Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR, Festlegung der Grenze in
der Elbemitte, Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter) sowie die Erhöhung des
Mindestumtausches im Herbst 198020 belastet, hatten jedoch nicht – nach meh-
reren Anläufen – das Treffen von Bundeskanzler Schmidt21 mit SED-Generalse-
kretär Honecker am Werbellinsee im Dezember 1981 verhindert.22
Die Beziehungen sind seit diesem Treffen auf DDR-Seite verstärkt vom Wunsch
auf Normalisierung (was dies auch im deutsch-deutschen Verhältnis heißen
mag) bestimmt. Daran hat der Regierungswechsel in Bonn23 nichts geändert,
als sich zeigte, daß die Regierung Kohl die Kontinuität der Deutschlandpolitik
beachtete.
Zu dieser Normalisierungstendenz gesellte sich im Zuge der Verschärfung der
Ost-West-Konfrontation auch die von der DDR gezeigte Neigung, das deutsch-
deutsche Verhältnis zu einem gewissen Maße von der Gesamtlage „abzukoppeln“,
um die mit dem Grundlagenvertrag und den nachfolgenden Vereinbarungen er-
zielten Fortschritte nicht zu gefährden. In diesem Sinne hat Erich Honecker, frei-
lich nicht ohne Kritik in den eigenen Reihen, die Stationierung amerikanischer
Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik24 keineswegs zum Anlaß der Ein-
schränkung der Beziehungen genommen, sondern die Dialogbereitschaft ver-
stärkt und mit Blick auf die beiden deutschen Staaten zwei Tage nach dem Tode
Juri Andropows in einer grundsätzlichen Rede vor der XXV.25 Bezirksdelegier-
tenkonferenz der SED Berlin am 11. Februar 1984 festgestellt: „Wir gehen mit
19 Diese waren insbesondere eine Folge der „Strauß-Kredite“ 1983/84, die jeweils an Gegen-
leistungen der DDR im humanitären Bereich und beim Grenzregime geknüpft waren.
20 Am 9. Oktober 1980 verkündete die DDR eine mit 13. Oktober in Kraft tretende Erhöhung
des Mindestumtausches auf 25 D-Mark pro Person und Tag für Reisen nach Ost-Berlin (zuvor
seit 1974 6,50 D-Mark) und in die DDR (zuvor seit 1974 13 D-Mark). Dies galt auch in voller
Höhe für die bis dahin vom Mindestumtausch ausgenommenen Rentner und Kinder. Wäh-
rend Rentner den vollen Betrag wechseln mussten, musste für Kinder unter 14 Jahren nun
6,50 D-Mark gewechselt werden. Nur Kinder unter sechs Jahren waren vom Mindestumtausch
befreit.
21 Helmut Schmidt, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland (1974–1982), siehe Person-
register mit Funktionsangaben.
22 Das Treffen zwischen Schmidt und Honecker fand vom 11. bis 13. Dezember 1981 statt. Vgl.
dazu die Dokumente 3–6, in: Von Hubertusstock nach Bonn. Siehe auch Dokument 61, in:
Bonn und Ost-Berlin.
23 Am 1. Oktober 1982 wurde die SPD-FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt
durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Deutschen Bundestages gestürzt, und eine
CDU / CSU-FDP-Koalition unter Führung von Helmut Kohl übernahm die Regierung.
24 Der Deutsche Bundestag stimmte der Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern
(BGM-109 Tomahawk) am 22. November 1983 mit 286 zu 255 Stimmen zu. Diese wurde we-
nige Tage später in Angriff genommen.
25 Gemeint ist die XV. Bezirksdelegiertenkonferenz der SED in Ost-Berlin am 11. Februar 1984.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99