Seite - 120 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Anfang 1985: Grundbericht Österreich und die DDR
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Dok. 1
Die Beziehungen zwischen Österreich und der DDR haben sich auch im Jahre
1984 weiter verstärkt und nach dem im Oktober 1983 erfolgten Staatsbesuch
von Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger37 und dem offiziellen Besuch von
Bundeskanzler Dr. Fred Sinowatz in der DDR am 5./6. November 1984 einen
weiteren Höhepunkt erreicht. Dieser Staatsbesuch, an dem auch der Bundesmi-
nister für Verkehr, Dkfm. Ferdinand Lacina, und der Staatssekretär im Bundes-
ministerium für Handel, Gewerbe und Industrie, Dr. Erich Schmidt, teilnahmen,
ist geeignet, gerade in einer spannungsvollen Zeit beispielhaft für den Dialog
unter Völkern und Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung zu sein. An
die positiven Auswirkungen des Staatsbesuches des DDR-Staatsratsvorsitzenden
Erich Honecker in Österreich (10.–13. November 1980 und des Gegenbesuchs von
Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger
– siehe oben) anknüpfend, wird er wei-
tere Impulse für die Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten,
vor allem auf wirtschaftlichem und kulturellem aber auch auf wissenschaftlich-
technischem und rechtlich-humanitärem Gebiet vermitteln.
Ungeachtet des Nachholbedarfs und der Ausbaumöglichkeiten bestätigte selbst
ein oberflächlicher Blick auf die bilateralen Beziehungen, daß sich das Verhältnis
Österreich-DDR in den letzten Jahren mehr als nur normalisiert hat.
Gewiß ist das Interesse der DDR an den Beziehungen zu Österreich vorrangig
in gesamteuropäischem Zusammenhang zu sehen: als Beispiel für den Grundsatz
der friedlichen Koexistenz und als über das Bilaterale hinausgehendes Beispiel zur
Sicherung der Entspannung.
Für die DDR bedeuten gute Beziehungen zu Österreich aber auch die Möglich-
keit, sich den selbst oder von anderen auferlegten Folgen der Abgrenzungspolitik
gegenüber der BRD zumindest teilweise zu entziehen und am Beispiel Österreichs
die eigenen Chancen und Dimensionen einer Staats- und Nationswerdung zu be-
werten. Für die Partei- und Staatsführung der DDR sind die guten Beziehungen
zu Österreich ein Mittel, die eigene Bevölkerung, die Österreich und Österreicher
schätzt, ein wenig aus der Fixierung auf die Bundesrepublik zu lösen. In diesem Sinn
sah sich Erich Honecker veranlaßt, in seiner Erklärung vom 10. Oktober 1982 zu
den deutschlandpolitischen Fragen der Bonner Regierungserklärung ausdrücklich
hervorzuheben, daß Österreich auch ein Staat sei, „in dem man deutsch spricht“.38
37 Kirchschläger hatte vom 11. bis 14. Oktober 1983 die DDR besucht.
38 So im Original. Diese Aussage entstammt den Ausführungen Honeckers zur Bonner Deutsch-
landpolitik, die am 15. Oktober veröffentlicht wurden: „Und was das Besondere angeht: Jetzt
gibt es auf deutschem Boden zwei souveräne, voneinander unabhängige Staaten – die sozia-
listische DDR und die kapitalistische BRD. Es entspricht den Interessen des Friedens, den
Interessen der Menschheit, wenn beide deutsche Staaten und nicht nur die DDR von dieser
Realität ausgehen. Es ist zu hoffen, daß dies mit der Zeit die Grundlage des Handelns der BRD
wird. Die DDR ist, wie bekannt, dazu bereit. Aus der Asche des zweiten Weltkrieges ging
kein geteiltes Deutschland hervor, sondern zwei deutsche Staaten. Ganz zu schweigen von der
Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Souveränität Österreichs, eines Staates, in dem
man auch deutsch spricht und mit dem die DDR bekanntlich gutnachbarliche Beziehungen
unterhält.“ Erich Honecker: Auch Bonn muß von den Realitäten ausgehen, in: Neues Deutsch-
land, 15. Oktober 1982, S. 1.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99