Seite - 162 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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6./7.10.1987: Gespräche Mocks mit Kohl und Genscher
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Dok. 11
Die echte Frage, die sich dem Westen stelle, sei, ob diese Kombination von
innerer Reform mit einer weniger kostspieligen Aussenpolitik im Interesse des
Westens liege. Er, Genscher bejahe diese Frage, da das sowjetische Verhalten jetzt
berechenbarer geworden sei. Allerdings bedeute dies nicht unbedingt eine Ver-
einfachung für den Westen. Man müsse diese neue Entwicklung in Ost europa
vielmehr als große Herausforderung für den Westen ansehen. Er habe schon
wiederholt den Standpunkt vertreten, dass die West-West-Dynamik nicht hinter
der Ost-West-Dynamik zurückbleiben dürfe. Der Westen könne diese Situation
nur nützen, wenn er zusammenstehe, sich also nicht selbst schwäche, etwa durch
wechselseitige Protektionismen und einen West-West-Handelskrieg.
Offenkundig sei, dass Gorbatschow keine Demokratisierung anstrebe, son-
dern nur eine Reform innerhalb des bestehenden Systems. Diesbezüglich stelle
sich allerdings die andere Frage, wie weit dieses System überhaupt reformfähig sei
und wie bald die Grenzen einer solchen Reform erreicht seien. Vorläufig begnüge
man sich in der Sowjetunion mit einer Rückkehr zu den Prinzipien der 20er Jahre
(Lenin), was leichter zu verkraften wäre.
Am Westen liege es, die Sowjetunion bei ihren Reformbemühungen zu ermu-
tigen. Diese Reformbemühungen hätten sich auch schon in der Aussenpolitik
fortgesetzt. Dies zeige sich in erster Linie beim Verzicht Gorbatschows auf die
dogmatische Ablehnung von „on-site-Inspektionen; erst durch diese Wende sei
der positive Abschluss der KVAE20 in Stockholm und auch das INF-Abkommen21
möglich geworden.
Die sowjetische Gesellschaft wisse auf die meisten Fragen, die sich derzeit
stellen, keine Antwort und stehe der Reform völlig unvorbereitet gegenüber.
Sacharow22 habe im Gespräch mit Weizsäcker und Genscher23 um Unterstützung
des Westens für den Kurs von Gorbatschow gebeten, da bei dessen Scheitern mit
einer Remilitarisierung der sowjetischen Gesellschaft zu rechnen sei.
20 Die Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in
Europa (KVAE) fand von 17. Jänner 1984 bis 19. September 1986 in Stockholm statt. Siehe
dazu bereits Dok. 1, Anm. 42.
21 INF = Intermediate Range Nuclear Forces. The Treaty Between the United States of America
and the Union of Soviet Socialist Republics on the Elimination of Their Intermediate-Range
and Shorter-Range Missiles, der INF-Vertrag, wurde am 8. Dezember 1987 durch die Sowjet-
union und die USA unterzeichnet und trat am 1. Juni 1988 in Kraft. Er sah die Vernichtung
und das Produktionsverbot nuklearer Flugkörper mit mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Me-
ter) vor. Der amerikanische Senat ratifizierte den Vertrag am 27. Mai 1988, am 1. Juni trat er
in Kraft. Der INF-Vertrag gilt als die erste tatsächliche Abrüstungsvereinbarung, mit der eine
vollständige Kategorie von Kernwaffen beseitigt wurde. Durch die Einigung der Vertragspart-
ner auf Inspektionen vor Ort und regelmäßige Verdachtskontrollen wurde nicht nur die Wirk-
samkeit des INF-Vertrages sichergestellt, vielmehr erhielt er Beispielcharakter für weitere
Abrüstungsverträge, insbesondere für die Verträge zu START auf dem Gebiet der nuklearen
Langstreckenraketen sowie die Verträge im Bereich der konventionellen Streitkräfte in Europa.
22 Andrei D. Sacharow, Physiker, Dissident, Friedensnobelpreisträger (1975), siehe Personen-
register mit Funktionsangaben.
23 Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1984–1994) war in Begleitung von Außenminister
Genscher vom 6. bis 11. August 1987 auf Staatsbesuch in der UdSSR.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99