Seite - 171 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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26.1.1988: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 15
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es, dass die CDU / CSU-Führung heute vor dem Scherbenhaufen ihrer Illusio-
nen steht und keine noch so realitätsferne, um nicht zu sagen, nationalistische,
großdeutsche, pangermanische Resolution kann daran etwas ändern. Mit dem
CDU / CSU-Papier, das das Papier nicht wert ist, auf dem es gedruckt ist, wird der
schon seit über 40 Jahren gescheiterte Versuch unternommen, europäische Politik
unter Umgehung der Realitäten zu machen, wie sie im Ergebnis des 2. Weltkrieges
und der Nachkriegsentwicklung entstanden sind.
Heute weiß es schließlich jedes Schulkind, dass gerade die Führungsgruppe um
Konrad Adenauer unter dem irreführenden Motto „Lieber Freiheit statt Einheit“
alles getan hat, um durch die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein
demokratisches Deutschland entsprechend den Bestimmungen des Potsdamer
Abkommens zu verhindern. Die von ihnen an die Wand gemalte „Rote Gefahr“
steckte den Gründern der Bundesrepublik so tief in den Knochen, dass sie jegliche
Vorschläge aus dem Osten ablehnten, die dem unbeirrbaren Willen nach Schaf-
fung eines Separatstaates entgegenstanden. Die Hymnen der DDR und der BRD
und die Ehrerweisung durch ein Bataillon der Bundeswehr in Bonn bestätigten
im September 1987 vor aller Welt, dass es auf deutschem Boden zwei voneinander
unabhängige souveräne Staaten gibt: die Bundesrepublik Deutschland und die
Deutsche Demokratische Republik, auf deren Territorium Berlin (West) liegt.4 Im
Vierseitigen Abkommen vom 3. September 19715 ist eindeutig klargestellt, dass
Berlin (West) kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland ist und nicht von
ihr regiert werden darf. Alle konnten damit gut leben. Es wird für Berlin (West)
und für Europa auf jeden Fall gut sein, die Belastbarkeit des Vierseitigen Abkom-
mens nicht zu testen.
Dieser scharfe Kommentar der SED zu einem Deutschland-Papier, das die
CDU / CSU mit mehr oder weniger gleichem Inhalt alle Jahre wieder bringt, hat
hier einige Überraschung ausgelöst. Vielleicht hat sich die Parteiführung vom
Besuch Erich Honeckers in Bonn6 und Anfang Jänner dieses Jahres in Paris
doch größere Folgewirkungen erwartet.7 Zweifellos hat auch der Besuch von
über 40 Jahren gescheiterte Versuch europäische Politik unter Umgehung der Realitäten zu
machen. […] Kurz und gut, mit einem Papier, das an allen Realitäten vorbeigeht, wie sie im
Ergebnis des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung entstanden sind, ist nichts
anzufangen. Mit ihm kann auch nicht eine einzige Frage gelöst werden, die im Interesse der
Bürger der BRD wie der DDR zu lösen wäre. Dies zu übersehen, liegt auch nicht im Interesse
der Völker Europas und der Welt, geschweige denn der Westberliner selbst. […] Es wird für
die Westberliner und für Europa auf jeden Fall gut sein, die Belastbarkeit des Vierseitigen Ab-
kommens nicht zu testen.“ Siehe: „Honni soit, qui mal y pense“. Ein Schelm sei, wer Arges dabei
denkt, in: Neues Deutschland, 20. Januar 1988, S. 2.
4 Zum Honecker-Besuch in der Bundesrepublik siehe Dok. 9 und 10.
5 Siehe Dok. 1, Anm. 15.
6 Siehe Dok. 9 und 10.
7 Botschafter Wunderbaldinger hatte über den vom 7. bis 9. Jänner 1988 absolvierten Besuch
wie folgt berichtet: „Die Bedeutung des Besuches selbst liegt für die DDR in der Tatsache
seiner Absolvierung. Nach dem Besuch in der BRD war Paris der logische nächste Schritt.
Die seitenlangen Berichte in den hiesigen Tageszeitungen und die ausführliche Wiedergabe
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99