Seite - 172 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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26.1.1988: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
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Dok. 15
Generalsekretär Gorbatschow in Bonn [sic!]8 und die dabei geäußerten Überle-
gungen zur Berlin-Frage einiges an Nervosität beigetragen. Die DDR wiederholt
stereotyp ihre Interpretation des Vier-Mächte-Abkommens und kann naturge-
mäß nicht daran interessiert sein, dass der für sie wichtigste Schirmherr dieses
Abkommens öffentliche Überlegungen anstellt darüber, dass die Möglichkeiten,
die in diesem Abkommen vorgezeichnet sind, noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Einige Beobachter hier sehen in dieser scharfen und fast sarkastischen Kritik
des Deutschland-Papiers der CDU / CSU ein weiteres Anzeichen für eine Kurs-
änderung in der DDR. Trotz der Vorgänge um die „eigenmächtige“ Teilnahme
an der Kampfdemonstration zu Ehren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts
(Abschiebung von ausreisewilligen Demonstranten, Einleitung von Ermittlungs-
verfahren wegen Verdachts auf landesverräterische Beziehungen)9 ist zum jetzi-
des republikanischen Pomps im hiesigen Fernsehen waren Ausdruck des weiter gestiegenen
Prestiges des zweiten deutschen Staates. Es war für Erich Honecker fast sichtbar schmerzlich,
sich die Ausführungen seiner Gastgeber über Menschenrechte und die Berliner Mauer an-
hören zu müssen. Er kannte jedoch diesen Preis seines Besuches bereits vor Antritt der Reise
und war gewillt, ihn auch zu bezahlen. Darüber hinaus war es nicht das erste Mal, dass sich
Erich Honecker deutliche Worte zu den Fragen der Menschenrechte anhören musste. In Paris
waren diese Worte nur noch etwas härter formuliert. Aber dass es so sein würde, wusste Erich
Honecker auch bereits vor seinem Eintreffen in Paris.“ Botschafter Franz Wunderbaldinger an
BMAA, Berlin (Ost), 12. Jänner 1988, Zl. 8-RES/88, BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES 1988 (1–6),
Karton 22.
8 Gorbatschow war im Zeitraum 1985–1988 nicht in Bonn zu Besuch, Wunderbaldinger muss
hier irren. Obwohl ein Besuch Gorbatschows in Bonn seitens der Bundesrepublik bereits
länger in Aussicht genommen war, fand dieser erst im vom 12. bis 15. Juni 1989 statt (siehe
Dok. 41–44). Gorbatschow hatte vom 17. bis 21. April 1986 den XI. Parteitag der SED in Ost-
Berlin besucht. Im Rahmen des Konsultativtreffens des Warschauer Pakts in Ost-Berlin vom
27. bis 29 Mai 1987 soll er sogar den Fortbestand der Berliner Mauer in Frage gestellt haben. So
in Berufung auf die Tagebücher von Teimuraz Stepanov-Mamaladze u. a. zuletzt Service, End
of the Cold War, S. 320; Sollte die Mauer schon 1987 fallen?, in: Der Spiegel, 45/2014, S. 18. Dies
war freilich zeitgenössisch nicht bekannt. Daher ist davon auszugehen, dass nicht ein Besuch
„von Generalsekretär Gorbatschow“ sondern jener von Außenminister Eduard Scheward-
nadse gemeint ist, der vom 18. bis 20. Jänner 1988 mit seinem westdeutschen Gegenüber Hans-
Dietrich Genscher in Bonn zusammentraf. In zeitgenössischer Wahrnehmung waren seine
Aussagen betreffend Berlin unklar geblieben: „Er tat [so], als ob Moskau noch einen Koffer in
Berlin habe
– aber er öffnete ihn nicht. Es gebe ungenutzte Möglichkeiten, alles sei erlaubt, was
das Viermächteabkommen nicht ausdrücklich verbiete, verriet Eduard Schewardnadse dem
Bundespräsidenten – doch in den Details blieb er unkonkret und ‚hartnäckig‘ (Genscher).“
Siehe: Die Zeit, 22. Jänner 1988. Auch die österreichische Diplomatie hatte weder von west-
deutscher noch von sowjetischer Seite etwas Konkreteres zu den Berlin-Bezügen im Rah-
men des Besuches in Erfahrung bringen können. Siehe dazu: BRD; Besuch des sowjetischen
Aussenministers Schewardnadse, Wien, 27. Jänner 1988, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol 1988,
GZ. 225.18.05/1-II.1/88.
9 Am 17. Jänner 1988 hatte in Berlin (Ost) die alljährliche Kampfdemonstration zu Ehren von
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht stattgefunden. Botschafter Wunderbaldinger berich-
tete: „Bemerkenswert wurde diese ‚offizielle Demonstration‘ erst durch den Versuch einer
Gruppe von Personen, sich ‚eigenständig‘ und mit eigenen Kampfparolen an dieser Demons-
tration zu beteiligen. […] Die Meldungen über die Zahl der Festgenommenen schwankte von
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99