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28.1.1988: Länderberichte Gesandter Sucharipa
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Dok. 16
Wenn Gorbatschow eine Meinungsvielfalt innerhalb des sozialistischen Rah-
mens („sozialistischer Pluralismus“) für die UdSSR als erstrebenswert bezeichnet,
da nur auf diese Weise das „schöpferische Potential des Sozialismus“ voll ausge-
nutzt werden kann, so ist es nur konsequent, wenn der sowjetische Parteichef eine
Pluralität von Meinungen und Konzepten auch innerhalb der sozialistischen Ge-
meinschaft als natürliche Erscheinung betrachtet.
Wenngleich die sowjetische Führung zweifellos von den mit ihr im Rahmen
des Warschauer Paktes verbündeten Staaten neben außenpolitischer Blockdis-
ziplin und wirtschaftlicher Integration im Rahmen des RGW auch ein gewisses
Maß an ideologischem Gleichklang verlangt, so ist heute doch ein größeres Ver-
ständnis der sowjetischen Führung für die wirtschaftlichen und gesellschaftli-
chen Entwicklungen jedes einzelnen Pakt-Staates unübersehbar.
Die Schaffung eines effizienten Wirtschaftssystems in der UdSSR, das nicht
bloß den sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und technologischen Interessen
der Supermacht UdSSR gerecht wird, sondern auch eine Befriedigung der materi-
ellen und sozialen Bedürfnisse der sowjetischen Bevölkerung ermöglicht, soll das
„internationale Ansehen und die Macht des Sozialismus“ stärken. Zur Verwirk-
lichung dieses Zieles sollen auch die übrigen Staaten der sozialistischen Gemein-
schaft nach Kräften beitragen. Gorbatschow verlangt zwar von keinem Ostblock-
führer, das sowjetische „perestrojka“-Modell blind zu kopieren; er erwartet aber
von allen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft, daß sie
– soferne sie dies nicht
schon getan haben – im Interesse ihrer eigenen Prosperität und der der sozialis-
tischen Gemeinschaft den Weg wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen
beschreiten. Dabei können die mit der UdSSR verbündeten europäischen Staaten
innerhalb bestimmter Grenzen eigene, durch nationale und historische Tradition
bedingte Wege bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ge-
hen. Die „eigenen Wege“ haben jedoch stets zur Voraussetzung, daß sie mit der
politischen Stabilität dieser Länder (insbesondere Festhalten an der führenden
Rolle der jeweiligen KP) vereinbar sind.
In diesem Sinne zeigen die beiliegenden Länderberichte („assessment papers
zum Jahresbeginn 1988“), die vom Bundesministerium für auswärtige Angele-
genheiten in dieser Form erstmalig erstellt wurden, daß trotz vieler Gemein-
samkeiten (insbesonders generelle Bemühungen zur Wirtschaftsreform unter
Einführung einiger marktwirtschaftlicher Elemente) in den einzelnen Staaten
(WP und Jugoslawien), durchaus unterschiedliche Situationen und Zukunfts-
aussichten bestehen und somit einer generalisierenden Betrachtung Osteuropas
Grenzen setzen.
[…]2
2 Ausgelassen wurden die Länderberichte zu Bulgarien und der ČSSR.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99