Seite - 180 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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12.2.1988: Aktenvermerk Gesandter Sucharipa
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Dok. 17
Nachdem die DDR-Behörden zunächst offensichtlich hart gegen die Demons-
tranten vorgehen wollten und die Oppositionelle Vera Wollenberger7 demgemäß
zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung wegen „Zusammenrottung“ verurteilt
wurde, kam es in weiterer Folge zu einem offensichtlichen Richtungswechsel bei
der Behandlung der Krisensituation. Nicht zuletzt dürfte dies auf heftige Prote-
ste aus dem Ausland zurückzuführen gewesen sein. (Auch der österreichische
P. E. N.-Club beteiligte sich an den Protesten.)8 Aber auch im Inland reagierten
die Menschen mit Appellen an die DDR-Führung für die Freilassung der Verhaf-
teten. In diesem Sinne wurden zahlreiche Fürbittengottesdienste abgehalten, die
sich mehr und mehr zu politischen Manifestationen entwickelten.
Mit der Freilassung von Stephan Krawczyk und seiner Frau sowie anderer an
der Demonstration Beteiligter und deren Ausreise bzw. Abschiebung in die Bun-
desrepublik Deutschland erfolgte schließlich eine offenkundige Wende in der
kritischen Affäre. Insgesamt waren mehr als 20 Oppositionelle von einer solchen
Abschiebung betroffen, wobei die Ausreise von Vera Wollenberger in die Bun-
desrepublik Deutschland als Schlußpunkt der Krise am 8. Februar d. J. erfolgte.
5 der Betroffenen wurde eine Ausreise ohne Aberkennung der Staatsbürgerschaft
gestattet. Diesem Personenkreis wäre demgemäß – zumindest theoretisch – die
Wiedereinreise in die DDR zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Mit dieser Vor-
gangsweise hat die DDR zugleich die Möglichkeit einer größeren Flexibilität für
die Zukunft angedeutet, sowie gegen die westdeutsche Theorie einer einheitlichen
deutschen Staatsbürgerschaft Position bezogen.
Aus den Ereignissen lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:
1. Es wird immer offensichtlicher, daß die Gedanken an „glasnost“ und „peres-
trojka“ in zunehmendem Maße auf oppositionelle intellektuelle Kreise in der
DDR ausstrahlen und trotz einer äußerst restriktiven Haltung der DDR-Füh-
rung gegenüber derartigen Konzepten eine gewisse Eigendynamik Platz greift.
(So wurde – wenn auch in verzerrter Form – im SED-Organ „Neues Deutsch-
land“ über die genannten Ereignisse berichtet; Dies ist eine Vorgangsweise, die
bisher eher unüblich war.)9
2. Auch die Öffnung der DDR nach außen, die der Staatsführung zweifellos
außenpolitische Prestigegewinne gebracht hat (Staatsbesuch Honeckers in den
Niederlanden, Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich), hat oppositio-
nelle Gruppen ermuntert, ihr Unbehagen verstärkt zum Ausdruck zu bringen.
7 Vera Wollenberger (geb. Lengsfeld, die 1991 wieder ihren Mädchenamen annahm), 1975 Bei-
tritt zur SED, 1975 bis 1980 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissen-
schaften der DDR, 1981 Mitbegründerin des Friedenskreises Pankow, 1983 SED-Ausschluss
und Berufsverbot, ab 1986 Mitglied der Gruppe „Gegenstimmen“, Mitorganisatorin aller Frie-
denswerkstätten und Ökoseminare bis Ende 1987, Mitbegründerin der „Kirche von unten“,
Jänner 1988 Verhaftung und Verurteilung wegen versuchter „Zusammenrottung“ bei der
Berliner-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, Februar 1988 Abschiebung nach England.
8 Trotz Bemühungen des österreichischen PEN-Clubs konnte der Protest nicht ausfindig ge-
macht werden.
9 Vgl. Anm. 2; vgl. Neues Deutschland ab dem 26. Jänner 1988.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99