Seite - 187 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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27.4.1988: Bericht Botschafter Bauer Dok. 20
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Die Bundesregierung befindet sich dabei allerdings in einem Dilemma, da sie
aus innen- und außenpolitischen Rücksichten zwar Geduld haben muß, mög-
lichst aber nicht zuviel davon zeigen darf.
Irgendwelche Hinweise auf bevorstehende sowjetische Initiativen im Zusam-
menhang mit der „Einheit der deutschen Nation“ sind derzeit nicht zu erwarten,
die äußeren Umstände sprechen gegen diesbezügliche Erwartungen. Gorbatschow
scheint zum einen mit seinen inneren Reformbemühungen ohnedies hinreichend
ausgelastet, zum anderen ist nicht zu erkennen, welche Vorteile eine deutschland-
politische Initiative in Richtung Wiedervereinigung der Sowjetunion, der DDR
(die ohnedies durch die Entwicklung im Inneren verunsichert ist) und überhaupt
dem Zusammenhalt des WP bringen könnte. Staatssekretär Hennig wertet des-
halb im privaten Gespräch die Erklärung Gerassimows5 über eine sowjetische
Bereitschaft zum Abzug aus der DDR6 im Falle eines US-Rückzuges aus Europa7
als einen für Bonn uninteressanten propagandistischen Schachzug und kein „Vor-
spiel“ zur Wiedervereinigung; das könne sich Gorbatschow aufgrund seiner inne-
ren Schwierigkeiten (einschl. des Nationalitätenproblems)8 und der Demütigung
in Afghanistan9 auch nicht leisten. Auch nach Ansicht der Botschaft handelt es
sich dabei eher um einen Gedanken, der mit der Politik Moskaus gegenüber der
NATO und möglicherweise hinsichtlich KRK10 in Zusammenhang steht.
5 Gennadij Gerassimow, Leiter der Hauptabteilung für Information im Ministerium für Auswär-
tige Angelegenheiten der UdSSR (1986–1990), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
6 Unterstreichung im BMAA. Die Erklärung Gerassimows konnte nicht aufgefunden werden.
7 Unterstreichung im BMAA.
8 Insbesondere Mitte 1987 waren diverse Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion immer
deutlicher und durchaus überraschend zu Tage getreten. Es war dies eine Folge der innen-
politischen Lockerungen, aber auch dem Entstehen neuer „nationaler“ Eliten innerhalb der
Sowjetunion geschuldet. Seit Februar 1988 befanden sich die Sowjetrepublik Armenien und
das Autonome Gebiet Berg-Karabach in einer Art Ausnahmezustand. Streiks und Massen-
demonstrationen verliefen zumeist noch friedlich, es dauerte aber nicht mehr lange, bis die
Konflikte eskalierten, immer mehr Randgebiete der Sowjetunion erfassten und schließlich
zu deren Zerfall mit beitrugen. Hierzu weiterführend: Helmut Altrichter, Russland 1989. Der
Untergang des Sowjetischen Imperiums, München 2009.
9 Am 25. Dezember 1979 marschierten Streitkräfte der Sowjetunion in Afghanistan ein. Den
sowjetischen Truppen gelang es jedoch nicht, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Am
9. Februar 1988 ließ Generalsekretär Gorbatschow in der Prawda den Abzug der sowje tischen
Streitkräfte verkünden. Am 15. April 1988 wurde das Genfer Abkommen zwischen der So-
wjetunion, Afghanistan, Pakistan und den USA geschlossen, mit dem der Krieg offiziell be-
endet wurde. Am 15. Februar 1989 verließ der letzte sowjetische Soldat Afghanistan.
10 KRK = Konventionelle Rüstungskontrolle. Die diesem Bereich zuzuordnenden Verhandlun-
gen über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) fanden schließlich gemäß dem Mandat
des Wiener KSZE-Folgetreffens vom 10. Januar 1989, ab 9. März 1989 in Wien statt und zwar
parallel zu neuen vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen in Europa (VSBM). Nach
schwierigen Beratungen gelang es den 16 NATO-Staaten und den sieben Warschauer-Pakt-
Staaten, der „Gruppe der 23“ sich auf ein Mandat für Verhandlungen über konventionelle Ab-
rüstung zu verständigen. Ziel war die Festigung der Stabilität und Sicherheit in Europa durch
die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte,
das konventionelle Bewaffnung und Ausrüstung einschloss, auf niedrigem Niveau; die Besei-
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99