Seite - 189 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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27.4.1988: Bericht Botschafter Bauer Dok. 20
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letzten Jahren sichtbar gewachsene Anzahl von Aktivitäten, Reden, Erklärungen,
Diskussionen usw., die führende Regierungspolitiker und insbesonders das inner-
deutsche Ministerium im In- und Ausland dieser Thematik widmen. Gleichzeitig
bedauert die Bundesregierung, dass die SPD an der nationalen Frage immer we-
niger Interesse zeige,14 weil dies die Schlagkraft der Bemühungen gegenüber dem
Ausland schwäche: Bahr15 liege zwar mit seinen Gedanken über zwei getrennte
deutsche Friedensverträge16 auch in der eigenen Partei abseits, doch hätte Brandt
(und Bahr), nach dem Mauerbau offensichtlich entmutigt, den Glauben an eine
Wiedervereinigungsmöglichkeit im Laufe der Geschichte verloren.
Für die Bundesregierung ergibt sich damit ein schwieriger Balancegang: Sie
muß stets über die Deutschlandfrage reden, ohne in der Öffentlichkeit übertrie-
bene Hoffnungen oder Illusionen wecken zu dürfen. Die letzte Episode in die-
ser Gleichgewichtsübung war die Ausarbeitung des CDU-Leitantrages für den
Mitte Juni bevorstehenden Parteitag,17 an dessen Formulierung ursprünglich
keine Vertriebenen-Vertreter beteiligt wurden und in dem die Vokabel „Wieder-
vereinigung“ fehlte. Die Ständige Vertretung der DDR sah darin ein bewußt ge-
setztes Signal und ließ ihre positive Bewertung auch den verantwortlichen CDU-
Generalsekretär18 wissen.19 StS Hennig leugnet hingegen eine solche Absicht und
verweist darauf, dass auch im Grundsatzprogramm der CDU20 das Wort selbst
14 Am 1. Dezember 1988 brach im Deutschen Bundestag Streit über das Fernziel der Wieder-
vereinigung aus. Der SPD-Fraktions- und Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel erklärte „die
Zugehörigkeit der beiden deutschen Staaten zu ihren jeweiligen Bündnissen“ sei mit „ihrer
Vereinigung oder gar der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937
unvereinbar“. Das sei laut Vogel die Realität. Aus der CDU / CSU-FDP-Regierung wurde dar-
aufhin der Vorwurf laut, die SPD habe dem Ziel Wiedervereinigung längst abgeschworen.
Siehe Frank Fischer, „Im deutschen Interesse“. Die Ostpolitik der SPD von 1969 bis 1989, Hu-
sum 2001, S. 355.
15 Egon Bahr, SPD, Vorsitzender des Unterausschusses für Abrüstungs- und Rüstungskontrolle
des deutschen Bundestages (1980–1990), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
16 Egon Bahr, Zum europäischen Frieden. Eine Antwort auf Gorbatschow, Berlin 1988, S. 38–48,
95–100; Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 533–538.
17 Vom 13. bis 15. Juni 1988 fand in Wiesbaden der 36. Bundesparteitag der CDU statt. Der
Leitantrag zu den Bereichen Außen-, Deutschland- und Sicherheitspolitik führte innerhalb
der CDU zu einer Diskussion über die Deutschlandpolitik. Auf Grund der Diskussion ließ
Kohl das Papier nochmals überarbeiten, siehe dazu ausführlich Karl-Rudolf Korte, Deutsch-
landpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989
(Geschichte der Deutschen Einheit, Bd. 1), Stuttgart 1998, S. 398–401; für eine Zusammen-
fassung siehe Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, Berlin 2012,
S. 470–471.
18 Heiner Geißler Generalsekretär der CDU (1977–1989), siehe Personenregister mit Funktions-
angaben.
19 Für die CDU-interne Kritik siehe z. B.
Jürgen Todenhöfer an Heiner Geißler, 15. März 1988, in:
Jürgen Todenhöfer, Ich denke Deutsch. Abrechnung mit dem Zeitgeist, Erlangen / Bonn / Wien
1989, S. 201–211.
20 Für das damals gültige jedoch sehr wohl den Verweis auf den Brief zur deutschen Einheit
(siehe Dok. 1, Anm. 17) enthaltende Grundsatzprogramm der CDU siehe: http://www.kas.de/
upload/ACDP/CDU/Programme_Beschluesse/1978_Grundsatzprogramm_Ludwigshafen.pdf
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99