Seite - 219 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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15.9.1988: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 26
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eines globalen Abkommens über Chemiewaffen. Dieses Abkommen ist aber bis
heute nicht zustande gekommen.
Als nächsten Punkt behandelten Erich Honecker und Károly Grósz die in-
nere Lage in der DDR bzw. in Ungarn. Dies stellte sich als Monolog dar, wobei
der jeweilige Gesprächspartner in den Monolog nicht eingriff und auch keine
Fragen stellte. Erich Honecker charakterisierte die innenpolitische Entwicklung
der DDR, ausgehend von dem durch den IX. Parteitag der SED 1976 beschlosse-
nen Parteiprogramm. In diesem Programm werde die weitere Gestaltung der
entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR als ein historischer Prozess
tiefgreifender, politischer, ökonomischer, sozialer und geistig-kultureller Wand-
lungen charakterisiert.
Károly Grósz erklärte demgegenüber, dass auch der DDR bekannt sei, dass
sich in Ungarn die Entwicklung des Sozialismus in den vergangenen Jahren ver-
langsamt hat und dass die Probleme in Ungarn zugenommen haben. Nach einer
breiten Diskussion sei die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei zur Schluss-
folgerung gelangt, dass es nur einen annehmbaren Ausweg aus den Sorgen gibt:
die tiefgreifende Erneuerung des Sozialismus, die Modernisierung des Denkens
und des Handelns. Es sei feste Absicht der USAP, zur Partei des ganzen Volkes zu
werden und auf dem Wege der Erneuerung der ungarischen Gesellschaft konse-
quent voranzuschreiten.
Wie bei Besuchen von sozialistischen Staats- und Regierungschefs üblich,
wollte man auch für Károly Grósz während seines Aufenthaltes in der DDR die
Besichtigung eines Betriebes im Besuchsprogramm einplanen. Die ungarische
Seite ersuchte jedoch, anstelle dieser Betriebsbesichtigung eine Zusammenkunft
mit Generaldirektoren von Kombinaten und Außenhandelsbetrieben zu organi-
sieren. Dieses Ansinnen hat die DDR ursprünglich zurückgewiesen, sodass Erich
Honecker persönlich grünes Licht für diesen Erfahrungsaustausch geben musste.
Károly Grósz wollte von den anwesenden Wirtschaftsfachleuten eine offene Dar-
legung der Schwierigkeiten und Hindernisse in der wirtschaftlichen Zusammen-
arbeit zwischen Betrieben der DDR und Ungarns erhalten. Trotz fast nachdrück-
licher Fragen blieben die 30 Generaldirektoren jedoch bezüglich vorhandener
Schwierigkeiten sehr zurückhaltend und zeichneten eher ein Bild funktionieren-
der Zusammenarbeit. Beide Seiten wollen in den strukturbestimmenden Zwei-
gen, wie Mikroelektronik, Rechen- und Robotertechnik sowie Biotechnologie, die
Zusammenarbeit intensivieren.
In seiner Tischrede bezeichnete der ungarische Gast den Rat für Gegenseitige
Wirtschaftshilfe auch langfristig als wichtigen Faktor der Wirtschaftsentwicklung
der sozialistischen Länder. Er schränkte jedoch ein, dass bei der unaufschiebbaren
Modernisierung der Zusammenarbeit die Waren- und Geldverhältnisse, die mo-
dernen ökonomischen Mittel eine bestimmende Rolle erhalten müssen. Für Un-
garn seien Wirtschaftsbeziehungen zu westlichen Industrieländern unumgäng-
lich: „Es ist für uns eine Existenzfrage, dass sich die Weltwirtschaft mit uns und
nicht ohne uns entwickelt.“ Ungarn strebe nach einem geordneten Verhältnis und
nach vertraglich geregelter Zusammenarbeit mit der Europäischen Wirtschafts-
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99