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23.11.1988: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 31
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aber auch der berühmte kleine Mann von der Straße Unverständnis dafür, dass
die DDR (und in der Folge Honecker) Ceaușescu zu einem Zeitpunkt empfange,
wo dieser zusehends in eine internationale Isolierung komme. Der Staatsführung
oder zumindest den für Sicherheit zuständigen Kreisen war diese Stimmung in
der Bevölkerung sicherlich bekannt. Die Durchführung des Besuches und die
äußerst freundliche Aufnahme des rumänischen Gastes müssen daher wohl als
bewusste, politische Geste verstanden werden.
In diesem Zusammenhang muss auch das Verbot der sowjetischen Zeitschrift
„Sputnik“4 und die Absetzung von fünf sowjetischen Spielfilmen5 gesehen wer-
den. Das Verbot für diese Filme dürfte in der versuchten kritischen Aufarbeitung
der Geschichte der Sowjetunion zu sehen sein. Überraschung und Verärgerung
hat auch die Absetzung des neuesten Programmes des (politischen) Kabaretts
„Die Distel“ ausgelöst.6 Einigen Staub wirbelt nach wie vor das Schicksal der acht
Schüler der Carl-von-Ossietzky-Oberschule auf, die ein Papier unterzeichnet hat-
ten, in dem der Sinn von Militärparaden in Frage gestellt worden war. Die Schul-
leitung hatte gegen vier Schüler Schulverweis und gegen weitere vier Schüler den
Wechsel der Schule verfügt.
Diese Vorfälle und der Besuch von Nicolae Ceaușescu unmittelbar vor der Sitzung
des Zentralkomitees der SED im Dezember7 vermitteln nachdrücklich den Ein-
druck einer deutlichen Verhärtung in der Haltung der DDR gegenüber den mög-
4 Das Magazin Sputnik (russisch für „Begleiter“) wurde 1967 von der sowjetischen Nachrich-
tenagentur Nowosti mehrsprachig publiziert und zwar mit der Hauptzielrichtung des sozia-
listischen Auslands und des Westens. Die Ausgabennummer 10 des Jahrgangs 1988 thema-
tisierte erstmals „Stalin und der Krieg“ und wandte sich damit gegen das von der offiziellen
Parteilinie unterdrückte Faktum des geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakts vom 23. August 1939, das der Ausgangspunkt für weitere Abmachungen
zwischen Berlin und Moskau zur Aufteilung Polens und der Zuteilung des Baltikums an die
Sowjetunion war. Stalin galt in der Perspektive der SED-Dogmatik als Antifaschist und An-
tiimperialist, der nur gegen Hitler gekämpft hatte. Mit der Indizierung der Nummer dieser
Zeitung und ihrer Verbannung in Giftschränke der Bibliotheken verstärkten sich Ärger, Geg-
nerschaft und Unverständnis in breiteren Bevölkerungskreisen wie in intellektuellen Schich-
ten. Der Begriff „Sputnik“ wurde auf Flugblättern und Inschriften zum Symbol für die Ein-
schränkung der Informationsfreiheit. Zum „Sputnik“-Verbot siehe u. a. Gunter Holzweißig,
Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR, Köln / Wien / Weimar 2002,
S. 147–156.
5 Zeitgleich mit dem Sputnik-Verbot wurden Mitte November 1988 auch sowjetische Filme aus
den Kinos der DDR verbannt, die kurz zuvor beim „Festival des sowjetischen Films“ noch ihre
DDR-Premiere feierten: „Die Kommissarin“ (1967/1987), „Der kalte Sommer des Jahres 53“
(1987), „Morgen war Krieg“ (1987), „Das Thema“ (1979), „Die Vogelscheuche“ (1987).
6 Das Kabarett-Theater DISTEL ist ein Ensemble-Kabarett und wurde 1953 als Ost-Berliner
Gegenpol zu älteren West-Berliner Kabaretts ins Leben gerufen. Es wirkte als politischer Ge-
genpol zum RIAS-Rundfunkkabarett „Die Insulaner“ und den „Stachelschweinen“, die von
West-Berlin aus, gegen die DDR polemisierten.
7 Die 7. Tagung des ZK der SED fand am 1. und 2. Dezember 1988 statt. Siehe Dok. 32.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99