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14.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
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Dok. 40
Fischer, dass es der KPdSU und den sowjetischen Volk gelingen wird, das Tempo
des Aufbaues zu beschleunigen, den Sozialismus attraktiver zu machen.
Nach den lakonischen Worten über die traditionelle Herzlichkeit der Begeg-
nungen (UdSSR – DDR) kam Schewardnadse in seiner Tischrede8 ziemlich bald
zur Sache und zum ersten Kongress der Volksdeputierten der UdSSR: Als Höhe-
punkt der Demokratisierung schafft der Kongress qualitativ neue Bedingungen,
unter denen sich die Richtungen der Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion
gestalten werden. Die offene Diskussion auf dem Kongress lässt (zum Unterschied
in der DDR?) Millionen von Menschen an der wahren Volksmacht teilhaben. Nach
diesem Kernstück seiner Tischrede kam Schewardnadse seinen Gastgebern etwas
entgegen, indem er die Umgestaltung (in der Sowjetunion) als ein Modethema
für Diskussionen im Westen bezeichnete. Noch deutlicher sind seine Worte, wo-
nach es jedem Bruderland freistehe, den Sozialismus in seinen Landesfarben aus-
zugestalten. (Seit einigen Wochen spricht die DDR von einem „Sozialismus in
den Farben der DDR“.). Den einige Wochen vor dem Besuch Gorbatschows in
Bonn aufgetauchten Gerüchten über neue Möglichkeiten der Wiedervereinigung
trat Schewardnadse nicht sehr vehement entgegen, indem er (seit 1945 wieder-
kehrend)
die Achtung der Nachkriegsrealitäten zu einem Faktor des Friedens und
der Sicherheit in Europa erklärte.
Die „Gemeinsame Mitteilung“9 enthält als neues Element eine vereinbarte Zu-
sammenarbeit bei der Pflege von Sprache und Kultur der Sowjetbürger deutscher
Nationalität. Dieser Hinweis war wohl notwendig, da ein Gesprächsthema zwi-
schen Gorbatschow und Kohl auch die Lage der Russland-Deutschen ist. Viel-
leicht im Hinblick auf die totale Niederschlagung der Studentenrevolte in Peking10
faschistischer Tradition geformt wurden, plötzlich Verhaltensweisen zeigen, die der Staat in
seinem Selbstverständnis seit der Staatsgründung ausgemerzt hat. Womöglich hat es sich der
zweite deutsche Staat zu einfach gemacht, als er sich von Anbeginn von den Greueln [sic!] des
Dritten Reiches lossagte und als Nachfolger des NS-Reiches nur die Bundesrepublik hinstellte.
Mit dieser Haltung wurde von vornherein jegliche Auseinandersetzung und Frage nach einer
Mitschuld unterbunden. Die in den Lehrplan mehr oder weniger eingebauten obligatorischen
KZ-Besuche waren in ihrer Zwangshaftigkeit doch nicht geeignet, den Jugendlichen die ent-
setzlichen Grausamkeiten der Vergangenheit klarzumachen. Eine methodisch aggressive Be-
richterstattung gegen den Staat Israel wurde für viele zu einer Brücke zum Antisemitismus.
Ein zum Teil latent vorhandener Rassismus provozierte durch die Abschottung des Landes
und durch eine schnell wachsende Zahl von Arbeitern, Lehrlingen und Studenten aus der
Dritten Welt Fremden- und Rassenfeindlichkeit. Der soziologische Wandel in einigen Orten
mit großem Fremdenanteil blieb unreflektiert und den Betroffenen wurde eine erforderliche
soziopsychologische Aufklärung nicht zuteil.“
8 „Wohltuender Einfluß der DDR auf Lage in der Welt. Toast von Eduard Schewardnadse“, in:
Neues Deutschland, 10./11. Juni 1989, S. 2.
9 „Gemeinsame Mitteilung über den offiziellen Freundschaftsbesuch des Ministers für Aus-
wärtige Angelegenheiten der UdSSR in der DDR“, in: Neues Deutschland, 10./11. Juni 1989,
S. 4.
10 Am 3. und 4 Juni 1989 schlug das chinesische Militär die studentische Demokratiebewegung,
die den Tian’anmen-Platz in Peking besetzte, gewaltsam nieder.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99