Seite - 275 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Bild der Seite - 275 -
Text der Seite - 275 -
26.6.1989: Bericht Botschafter Wunderbaldinger Dok. 46
275
lichen Bezirken des Landes war über Wochen hindurch lediglich Kraut in allen
Farbvariationen (Weißkraut, Rotkraut, Blaukraut) zu erhalten und selbst dieses
dem Deutschen als typisch nachgesagte Gemüse wurde laut kritischen Briefen ei-
niger Bewohner dieser Bezirke „wie eine exotische Frucht gehandelt“.
Auch sein Bericht ist einerseits von Verteidigung gegenüber den stärker wer-
denden Kräften des Imperialismus („Der Klassengegner versuchte stärker als in
der Vergangenheit, über westliche elektronische Medien die Wahlen in der DDR
negativ zu beeinflussen und Gegenkräfte zu mobilisieren.“) sowie andererseits
von der „Sieghaftigkeit des Sozialismus“ geprägt. In den Worten, dass „in einem
langen schweren Kampf den historischen Gesetzmäßigkeiten folgend sich der
Übergang von Kapitalismus zu Sozialismus vollzieht“, schwingt die Angst mit,
dass in einigen sozialistischen Staaten möglicherweise das Gegenteil im Gange
sein könnte.
Im Jahr des „historischen Ereignisses: 40 Jahre Deutsche Demokratische Re-
publik“ kann und darf nur sein, dass „auf deutschem Boden in der Heimat von
Karl Marx und Friedrich Engels der Sozialismus für immer und unwiderruflich
verwurzelt ist.
Im „Jubeljahr“ (40 Jahre DDR) kann und darf nur Feierstimmung herrschen.
Die Veränderungen in einigen sozialistischen Nachbarländern verunsichern na-
turgemäß die Führung der DDR. Die alte Sprache (und in den obersten Köpfen
wohl auch das alten Denken) dieser beiden Ereignisse machen deutlich, dass sich
die DDR verstärkt in trotzige Verteidigungsstellung eingräbt, wobei auch in ge-
hobenen Kreisen der Partei- und Staatsführung nicht unbemerkt bleibt, dass die
wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten im Lande sich verstärkt haben.
Bis zum XII. Parteitag im nächsten Jahr7 wird jedoch auch mit dem gegen-
wärtigen Instrumentarium der Kurs weitergefahren werden können. Nicht über-
sehen darf man allerdings dass hinter diesem alten Reden die Bereitschaft zum
neuen Denken in nicht unbeachtlichen Ausmaß auch im mittleren Bereich der
Partei und der Bürokratie eingezogen ist. Eine allfällige Änderung könnte somit
–
mit Ausnahme der Gestrigen – fast aus dem Stand vollzogen werden. Das große
Fragezeichen für diesen sozialistischen Staat ist allerdings die Untermauerung
und das Selbstverständnis dieses Staates: Polen wird immer Polen bleiben. Ungarn
wird immer Ungarn bleiben. Was ist mit der DDR ohne ideologisch prononcierte
Ausrichtung und Abgrenzung?
Der Botschafter:
(Wunderbaldinger)
7 Der XII. Parteitag der SED wurde zunächst vom Mai 1991 auf 15. bis 19. Mai 1990 vorverlegt.
Nach dem Mauerfall wurde er auf Dezember 1989 vorverlegt. Siehe dazu Dok. 93 und 97.
zurück zum
Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99