Seite - 308 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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19.9.1989: Information Gesandter Nowotny
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Dok. 57
Dazu ist erstens das zu sagen, was seinerzeit auch Chruschtschow11 dem da-
maligen Außenminister Kreisky12 gesagt hat: Die Neutralität ist ein Status, der
einem kleineren Staat angemessen ist, der sich geographisch-sicherheitspolitisch
zwischen zwei Mächten befindet.13 Er kann aber nicht auf einen Staat Anwendung
finden, der auf Grund seines großen eigenen Gewichtes, ob er das nun will oder
nicht, zu einem maßgeblichen Faktor für die internationalen Beziehungen wird.
Die Ostpolitik eines wiedervereinigten Deutschlands wäre selbst dann, wenn die-
ser Staat formal, „neutral“ wäre, in ihrer praktischen Wirkung nicht neutral. Was
immer ein großer Staat unternehmen würde, das hätte weitreichende Folgen so-
wohl im Westen wie auch im Osten des Kontinents. Ob zum Beispiel ein kleiner
neutraler Staat sich an Sanktionen beteiligt, das erhöht oder vermindert die Wirk-
samkeit solcher Sanktionen nur unerheblich. Ob ein Staat mit mehr als 70 Mil-
lionen Einwohner mitmacht, das entscheidet aber sehr wohl darüber, ob solche
Sanktionen wirksam sind.
Zweitens würde eine „Neutralisierung“ der jetzigen BRD (so wie es z. B. im bei-
liegenden Artikel der neokonservative amerikanische Intellektuelle Irving Kri-
stol vorschlägt)14 das westliche Verteidigungsbündnis so sehr schwächen, dass
es substanzlos wird. Die Geographie bevorzugt nun einmal „geopolitisch“ die
große Landmasse im Osten des Kontinents. Demgegenüber hat das der NATO
verbündete Westeuropa nur eine geringe strategische Tiefe. Würde diese Tiefe
durch die „Neutralisierung“ der BRD weiter verringert, so könnte auf diesem so
geschrumpften Territorium in keiner Weise mehr ein militärisches Gegengewicht
zur Sowjetunion aufrechterhalten werden. Ein „Gleichgewicht“ (oder besser: kon-
fliktverhinderndes Kräfteverhältnis) wäre nicht länger gegeben.
11 Nikita Chruschtschow, Erster Sekretär der KPdSU (1953–1964) und Ministerpräsident der
UdSSR (1958–1964), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
12 Bruno Kreisky, österreichischer Außenminister (1959–1966) und Bundeskanzler (1970–1983),
siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
13 Nowotny bezieht sich hier höchstwahrscheinlich auf den 1986 erschienenen ersten Band der
Kreisky-Memoiren. Dort hielt Kreisky allerdings mit Blick auf die Neutralität und Deutsch-
land fest: „Später nach dem Abschluß der Verhandlungen in Moskau, habe ich Mikojan ge-
fragt, ob denn eine solche Lösung nicht auch für Deutschland in Betracht käme. Da meinte er
sinngemäß, die Neutralität bestehe aus jenem Stück Papier, in dem sie verankert sei, weil sich
der kleine Staat der Folgen bewußt sei, die ein Vertragsbruch für ihn haben kann. Für einen
großen Staat, etwa für ein vereinigtes Deutschland, wäre das ein Stück Papier, das obsolet
werden könnte – und was soll man tun? Krieg führen? Das scheint mir eine Antwort auf die
seit neuem wieder vielfach erörterte Frage, ob eine Neutralität auch für Deutschland erreich-
bar gewesen wäre. Ich glaube das nicht.“ Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen
aus fünf Jahrzehnten, Berlin 1986, S. 461. Zu Kreisky als Kronzeugen für die Unanwendbarkeit
des Österreich-Modells für Deutschland und seine Einschätzungen zur deutschen Frage nach
1955: Michael Gehler, Modellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag
und Neutralität 1945–1955, Innsbruck / Wien / Bozen 2015, S. 1220–1231.
14 Irving Kristol, „Why not Neutralize Eastern Europe?“, in: International Herald Tribune,
13. September 1989; Irving Kristol, US-Sozialwissenschaftler, er gilt als einer der wichtigsten
Vertreter des Neokonservatismus, siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99