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25.7.1990: Information für den Bundeskanzler Dok. 165
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Mit großer Anteilnahme haben wir die Ereignisse des letzten Jahres in der DDR
verfolgt. Noch immer klingt uns das „Wir sind das Volk“ in den Ohren, diese
endgültige Artikulation der Grundlage jeder demokratischen Gemeinschaft. Mit
Ihnen ist zum ersten Mal in den achtzehnjährigen Beziehungen zwischen unseren
beiden Staaten ein DDR-Regierungschef in Wien, der tatsächlich eine demokra-
tische Republik vertritt. Sie können sich auf einen klaren Wählerauftrag stützen
und es sei mir gestattet anzumerken, dass Sie sich dieser so wichtigen – wenn
auch vordergründig, vielleicht nicht immer dankbar erscheinenden
– Aufgabe mit
allgemein anerkannter Bravour entledigen.
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist von größter politischer Trag-
weite. Sie verkörpert wie kein anderes Ereignis die Überwindung der Teilung un-
seres Kontinentes. Die grundlegende Änderung des politischen Klimas in Europa
erlaubt es endlich, eine tragfähige Friedensordnung an die Stelle der jahrzehnte-
langen Blockkonfrontation zu setzen. Deutschland kommt in einer solchen Frie-
densordnung naturgemäß eine zentrale Rolle zu. Beide deutschen Staaten, die in
absehbarer Zeit wieder zu einem Staat zusammenwachsen werden, haben in ein-
drucksvoller Weise deutlich gemacht, dass sie bereit und in der Lage sind, dieser
Herausforderung gerecht zu werden.
Eine solche Übergangsphase, noch dazu, wenn sie mit einem tiefgreifenden Sy-
stemwandel verbunden ist, bringt bedeutende Umgestaltungsprobleme mit sich.
Umso bemerkenswerter erscheint uns die stille Entschlossenheit und die poli-
tische Reife, mit denen man in der DDR an die vielfältigen Fragen herangeht.
Die vorige Woche in Moskau7 und Paris8 erreichte Klärung der äußeren
Aspekte der Vereinigung ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Ziel, das noch
vor einem Jahr als unerreichbar gelten musste. Die politische Leistung aller Be-
teiligten, vor allem auch der Mut und die Weitsicht von Präsident Gorbatschow,
sind sehr zu würdigen. Dennoch ist klar, dass sich die Schaffung der nötigen
Voraussetzung für die deutsche Einheit in der DDR, angesichts ihrer Komplexität
und der berechtigten Anliegen der Bevölkerung, mindestens ebenso bedeutend
und anspruchsvoll gestaltet.
Seien sie sicher, dass Österreich gerne bereit ist, zu diesem großen Vorhaben
nach Kräften beizutragen. Die österreichische Wirtschaft ist sehr daran interes-
siert, sich in der DDR zu engagieren. Wir haben noch zu einer Zeit, als wir bei
vergleichbaren Anlässen von „beispielhaften Beziehungen zwischen Ländern un-
terschiedlicher Gesellschaftsordnung“ sprechen mussten, gute Kontakte herge-
stellt. Schon unter diesen sehr hemmenden Bedingungen hatten wir in der DDR
wertvolle und leistungsfähige Partner gefunden. Umso leichter sollte es uns fallen,
die Weichen für wahrhaft freundschaftliche Beziehungen zu unseren Nachbarn
in der DDR zu stellen.
7 Bundeskanzler Helmut Kohl war vom 14. bis 16. Juli 1990 zu Besuch in der Sowjetunion. Siehe
Dok. 161 sowie für die Wertung der Ergebnisse Dok. 162–164.
8 Zum dritten 2+4-Ministertreffen am 17. Juli 1990 in Paris siehe Dok. 166.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99