Seite - 698 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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28.9.1990: Bericht Botschafter Binder
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Dok. 174
grund seiner persönlichen Geschichte nicht verwundert, steht mit diesen Be-
denken nicht alleine. Über die Probleme mit neonazistischen Umtrieben unter
Jugendlichen wurde bereits berichtet.4 Diese sind neben Berlin vor allem in den
empfindlichen grenznahen Gebieten zu Polen feststellbar. In diesem Zusammen-
hang wird mit Verwunderung festgestellt, daß in Polen die Zahl derjenigen, die
sich als Deutsche bezeichnen, rasant anwächst. Dies gilt vor allem für Schlesien
und dürfte in den katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen in der Region be-
gründet sein. Aber selbst in Gegenden Polens, wo es seit der Nachkriegszeit keine
Deutschen mehr gibt, wie in Pommern, sei es, wie man hört, zu Pro-Deutschland-
Demonstrationen gekommen. In Stettin sollen Demonstranten Spruchbänder mit
„Wir sind ein Volk“ getragen haben.
Auch innerdeutsch sind Mißgriffe in Ton und Umgangsform auf der Tages-
ordnung. So mahnte der Vorsitzende der SPD-Ost, Thierse,5 die Delegierten aus
1. Stasi-Akten: Zunächst hatte die Volkskammer im letzten Moment einen Passus im Eini-
gungsvertrag verhindert, demzufolge die 6 Millionen vorhandenen Stasi-Akten (aneinander-
gereiht 160km) in das Bundesarchiv in Koblenz übersiedeln hätten sollen. Die Besetzer der
Stasi-Zentrale sind auch mit der nunmehrigen Regelung nicht zufrieden, daß die Akten vorläu-
fig auf DDR-Gebiet verbleiben und das gesamtdeutsche Parlament über das weitere Schicksal
entscheiden soll. Argumente der Besetzer: Betroffen ist die DDR-Bevölkerung, nicht Gesamt-
deutschland; Gefahr des Mißbrauchs; Recht auf Einsicht durch die Opfer.
Nicht ganz ersichtlich ist für den Beobachter allerdings, aus welchen Gründen die Stasi-
Akten ausgerechnet auf DDR-Gebiet, wo doch noch viele Täter offen oder verborgen existieren,
sicherer sein sollten als in Koblenz.
Ein weiteres Problem stellt sich bei der Aufarbeitung der Stasi-Aktivitäten darin, daß die
wirklich Verantwortlichen wahrscheinlich schwer zu überführen sein werden. Wie der letzte
Stasi-Chef, Großmann, dem „Spiegel“ glaubhaft anvertraute, hätte die Stasi in einem sehr frü-
hen Stadium der Wende mit großangelegter Aktenvernichtung begonnen.
2. Eine weitere Altlast stellen die Ermittlungen gegen die höchsten SED-Funktionäre dar,
die sich im übrigen nicht gerade durch besondere Effizienz auszeichnen dürften. Es wird letzt-
lich der Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik obliegen, diese Altlast zu bewältigen.
3. Was soll mit den zahllosen SED-Funktionären und Kollaborateuren in der staatlichen,
Bezirks- und Kommunalverwaltung geschehen, insbesondere in jenen Bereichen, wo viele von
ihnen weiterhin gebraucht werden […].
4. Auch die Frage, was mit den Opfern des SED-Regimes geschehen soll, ist nur in Ansätzen
geklärt. Der Einigungsvertrag inkorporiert zwar die gemeinsame Erklärung von BRD und
DDR über die Ansprüche an enteigneten Vermögenswerten, enthält sich aber weiterhin der
Festschreibung genauerer Richtlinien. […]
5. Im Vergleich zu diesen Problemen mutet eine Frage geradezu banal an, die allerdings
auch die hiesigen Gemüter bewegt: Was soll mit den zahlreichen Denkmälern der kommu-
nistischen Herrschaft geschehen und wie soll man mit den vielen Straßennamen verfahren,
die an verdiente Kommunisten erinnern?“ Botschaftsrat Werner Brandstetter an BMAA, Berlin
(Ost), 6. September 1990, Zl. 275-Res/90, ÖStA, AdR, BMAA, II-Pol, GZ. 43.03.00/43-II-3/90.
4 Siehe dazu ebenfalls Anm. 3 und Dok. 114, Anm. 8. Zur früheren Wahrnehmung Dok. 40,
Anm. 7.
5 Wolfgang Thierse, Vorsitzender der SPD (DDR) (Juni – Oktober 1990), siehe Personenregister
mit Funktionsangaben.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99