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28.9.1990: Bericht Botschafter Binder Dok. 174
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dem Westen in seiner Rede vor dem Vereinigungsparteitag,6 sie mögen sich nicht
als Sieger aufspielen.
Die Deutschen des Ostens werden noch auf Jahre hinaus in Situationen kom-
men, in denen sie sich als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Die Presse meldete
dieser Tage, daß Detlev Rohwedder, Vorsitzender der Treuhandanstalt, kritisiert
haben soll, daß manche westdeutsche Unternehmer im Osten wie Kolonialherren
auftreten.7 Auch Ministerpräsident de Maizière, mit dem der Gefertigte anläß-
lich eines Abschiedsempfanges Gelegenheit hatte ein Gespräch zu führen, äußerte
sich in ähnlichem Sinn. Er meinte, daß es bedauerlicherweise de facto nicht zu
der von ihm angestrebten Vereinigung zweier souveräner Staaten gekommen sei,
sondern daß die DDR im Grunde genommen angeschlossen wurde, wobei die Be-
dingungen weitgehend von Bonn bestimmt wurden.
Diese Skizze von Problemen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sich
ihrer bewußt zu werden und sie zu bewältigen, wird eine wichtige Aufgabe des ver-
einten Deutschland sein. Trotz der mitunter zwiespältigen Stimmung im Lande,
dürfte dennoch bei der Mehrheit der Optimismus überwiegen, daß diese Schwie-
rigkeiten in wenigen Jahren überwunden sein werden und sich Außenminister
Genschers Vorhersage vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen,8
daß von Deutschland nunmehr Frieden ausgehen wird, bewahrheitet.
Der Botschafter:
BINDER m. p.
6 Die SPD und die Ost-SPD traten am 26. September 1990 separat in Berlin zusammen, der Ver-
einigungsparteitag erfolgte am 27. September. Thierse hielt die Eröffnungsrede siehe dazu:
Vorstand der SPD (Hg.), Protokolle der Parteitage SPD (Ost) und der SPD (West), Berlin
26. September 1990, Bonn 1990.
7 Es konnte nicht eruiert werden in welchem Printmedium diese Aussagen wiedergegeben
wurden.
8 Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, vor der 45. Generalver-
sammlung der Vereinten Nationen am 26. September 1990, vgl. Bulletin des Presse- und In-
formationsamtes der Bundesregierung, Nr. 115/1990, Auszug: „Die Welt begleitet die Vereini-
gung der Deutschen mit Wohlwollen, Sympathie und mit Freundschaft. Dafür empfinden wir
Dankbarkeit. Besinnung auf Geschichte und Verantwortung, nicht nationalistischer Über-
schwang bestimmen die Gefühle der Deutschen in diesen historischen Tagen. Das unendliche
Leid, das in deutschem Namen über die Völker Europas und der Welt gebracht wurde, werden
wir nicht vergessen. Wir gedenken aller Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir
gedenken in besonderer Weise der unsäglichen Leiden des jüdischen Volkes. Wir erkennen
unsere Verantwortung, und wir nehmen sie an. An die Generalversammlung der Vereinten
Nationen richte ich die Botschaft: Wir Deutschen vereinen uns in dem Willen, dass alles das
nie wieder geschehen darf. Unser Volk wird wieder vereint in einem demokratischen Staat
leben. Unser gemeinsamer Staat wird auf die Achtung der unveräußerlichen Menschenrechte
gegründet sein. Vom Boden des vereinten Deutschland wird nur Frieden ausgehen.“
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99