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3.10.1990: Erklärung Vranitzkys zur deutschen Einigung
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Dok. 176
gekennzeichnet ist. Mit dem heutigen Tag sind die Zeiten der Konfrontation in
Europa endgültig durch jene der Kooperation abgelöst worden. Österreich wird
jedenfalls seinen Beitrag zu einem gemeinsamen Europa der Vielfalt, wie es sich
nun abzuzeichnen beginnt, leisten.
Die deutsche Einheit wäre wohl nicht denkbar ohne den Einsatz, den uner-
schütterlichen Glauben und die Hoffnung der Menschen, die sich unter größten
Entbehrungen in ganz Osteuropa und natürlich auch in der ehemaligen DDR für
Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben. Die deutsche Einheit wäre
aber auch nicht denkbar, ohne die Politik der Entspannung und des Dialogs seit
den frühen 70er Jahren, ohne die Politik der Öffnung und Umgestaltung, die die
Möglichkeit der Reform erst eröffnet haben.
Österreich unterstützt diese Entwicklung, die in der deutschen Vereinigung
ihren großen und weiterhin sichtbaren ersten Höhepunkt gefunden habe. Öster-
reich tut dies gerade auch in wachem Bewusstsein seiner eigenen Geschichte und
der Geschichte seines Nachbarlandes Deutschland.
Das heutige Deutschland ist nämlich eines der Demokratie und der Verant-
wortung gegenüber der Völkergemeinschaft. Das heutige Österreich ist eines des
ökonomischen Wohlstandes und der sozialen Sicherheit, das seinen Staatsbürge-
rinnen und -bürgern Vertrauen und Geborgenheit gibt. Es ist ein Staat, der durch
seine erst seit 1955 gepflogene Außenpolitik und durch den Status der immerwäh-
renden Neutralität eine nützliche und von seiner Bevölkerung mit Überzeugung
getragene Rolle in der Staatenwelt einnimmt. Der Prozess der europäischen Eini-
gung gibt diesem Österreich nun zusätzlich die Möglichkeit, seine Wirtschafts-
kraft und seine hohen sozialen und Umweltstandards einzubringen, wozu wir
gern bereit sind. Seine Neutralität ist in diesem Prozess auch weiterhin Ausdruck
seiner Souveränität, die es auch in Zukunft beibehalten will. Dies gilt es gerade
auch an einem Tag festzuhalten, an dem Österreichs Nachbarland Deutschland
endgültig seine volle Souveränität erlangt hat.
Die Anstrengung in Richtung eines gemeinsamen demokratischen, sozialen
und wirtschaftlich erfolgreichen Europas der Vielfalt müssen auch nach dem
heutigen Tag fortgesetzt werden. Nicht nur weil Europa selbst vor neuen Heraus-
forderungen, besonders auf dem Gebiet der Umweltzerstörung und der sozialen
Ungleichheit steht. Sondern auch, weil die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes
die globalen Probleme und die Konflikte in anderen Regionen der Erde, wie wir
sie etwa aktuell gerade in der Golfkrise erleben, keineswegs noch gelöst hat. Die
berechtigte Freude über die deutsche Einheit sollte uns deshalb Hoffnung und
Mut geben, auch die globalen Probleme anzugehen.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99