Seite - 719 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
Bild der Seite - 719 -
Text der Seite - 719 -
18.1.1993: Abschlussbericht Botschafter Grubmayr Dok. 180
719
tische und wirtschaftliche Entwicklung auf unserem Kontinent, aber auch der
künftige Stellenwert der internationalen Organisationen und vor allem die Stärke
des integrativen Impetus werden wesentlich darüber entscheiden, ob Deutschland
seine Machtstellung innerhalb der multinationalen Gremien und im Einverständ-
nis mit den anderen Staaten ausübt.
Andernfalls könnten wieder gewisse aus der Vergangenheit bekannte Ge-
fahrenmomente auftauchen, wenn die Basis für eine Einbettung Deutschlands
in eine internationale Weltordnung schwächer werden sollte. Trotz der gegen-
wärtigen Integrationsmüdigkeit in der Gemeinschaft und der Möglichkeit, dass
sich die Konsensfreudigkeit in den Vereinten Nationen wieder verringern könnte,
wenn zum Beispiel Russland ausschert, sind mittelfristig deutsche „Alleingänge“
nicht sehr wahrscheinlich, schon aus der inneren Stimmung heraus, von der ich
nicht annehme, dass sie sich etwa bei den nächsten Wahlen in einem außenpoli-
tisch spürbaren Rechtsruck auswirkt. Das deutsche Staatsschiff wird derzeit noch
mehr auf den offenen Ozean hinausgestoßen, als dass es selbst schon mit Voll-
dampf voraus dorthin tendiert.
Ziemlich offen scheint die Frage, wie die Regierungszusammensetzung in den
nächsten Jahren beschaffen sein wird. Es wird viel von der großen Koalition ge-
sprochen, manche Sozialdemokraten wünschen sich eine Ampelkoalition. Wesent-
lich für die Weichenstellungen in dieser Hinsicht wird die weitere Entwicklung in
der FDP sein. Sie hat in der letzten Zeit kein sehr gutes Bild von sich gegeben, und
der an sich einer großen Koalition abgeneigte Bundeskanzler könnte diese seine
Meinung ändern, wenn der Koalitionspartner weiterhin „Mist“ macht und fort-
fährt, die Regierungsverdrossenheit in der Bevölkerung mit negativen Selbstdar-
stellungen anzuheizen. Ob Herr Kinkel10 das Steuer als Parteiobmann herumreißen
wird? Werden ihm seine Europa- und Auslandsverpflichtungen dazu Zeit lassen?
Bis vor kurzem hätte ich noch geglaubt, dass der deutsche Kanzler nach den
Wahlen 1994 ganz natürlicher Weise wieder Helmut Kohl heißen wird. Aber
man sollte die Irrationalität des Wählerverhaltens nicht unterschätzen: Kohl wird
dann 12 Jahre Regierungschef und 20 Jahre Parteiobmann gewesen sein. Er hat
das window of opportunity aus dem Osten 1990 mit sicherem Instinkt ausgenützt
und den Deutschen die Wiedervereinigung beschert (heute sind ja nicht mehr
alle so glücklich darüber). Aber wie war es mit Winston Churchill, der für Eng-
land
– man kann dies ruhig so vereinfachend sagen
– den Krieg gewonnen hat? Er
wurde 1945 mitten aus den Verhandlungen über die neue Weltordnung abgewählt
und durch den eher farblosen Clement (Lord) Attlee11 ersetzt. Ist etwa das sym-
pathische Gesicht des nordischen Pfeifenrauchers Engholm12 weniger attraktiv
10 Klaus Kinkel, FDP, Bundesminister des Auswärtigen (1993–1998), siehe Personenregister mit
Funktionsangaben.
11 Clement Attlee, Premierminister Großbritanniens (1945–1951), siehe Personenregister mit
Funktionsangaben.
12 Björn Engholm, SPD, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein (1988–1993), siehe
Personenregister mit Funktionsangaben.
zurück zum
Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99