Seite - 721 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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18.1.1993: Abschlussbericht Botschafter Grubmayr Dok. 180
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könnte die Botschaft die Flut von Anfragen, die wir aus Österreich bekommen,
auch gar nicht bewältigen.
Es mag nun manche deutsche Partner, die einen recht guten Überblick über
die Gesamtheit unserer Beziehungen und „Verflechtungen“ haben, zu einer ge-
wissen Süffisanz verleiten, wenn sie bemerken, dass wir in einem – allerdings
sehr wichtigen – Teilbereich, nämlich in unseren kulturellen Aktivitäten, bis-
weilen sehr radikale Trennungslinien ziehen, so in der Frage der Zusammen-
arbeit mit Goethe-Instituten, beim gemeinsamen Auftreten von Literaten und
Künstlern, bei der staatsbürgerlichen Zuordnung von Komponisten etc. Dazu
kommt, dass sehr viele österreichische Autoren ihre Werke bei deutschen Ver-
legern herausbringen, manche Maler aus Österreich eher hier reüssieren als zu
Hause, etc.
Wo und wie kräftig soll man dem in Deutschland (und ja auch partiell bei uns
zu Hause)
sicher noch immer herumgeisternden Konzept der „deutschen Kultur-
nation“ entgegensteuern, der Auffassung, es gäbe eben eine deutsche Literatur,
wobei man darunter alle deutschsprachigen Literaturschöpfungen subsumiert?
Ich habe in vielen Vorträgen, Diskussionen und privaten Gesprächen immer wie-
der darauf hinweisen müssen, dass wir nicht nur politisch und wirtschaftlich ein
selbständiger Staat sind, sondern eben auch auf dem hier als fließend, allzu flie-
ßend betrachteten Gebiet der künstlerischen und geistigen Manifestation eine
eigenständige österreichische Entwicklung existiert, die man nicht dem deut-
schen Regionalismus zurechnen kann (wie etwa: Bayern sind anders als Hambur-
ger, ein Steirer eben auch …). Nun treten viele österreichische Geistesschaffende
und Künstler hier ohne spezielles Österreichetikett auf, weil wir mit 2 noch so
einsatzfreudigen Kulturdamen für ein 80 Millionenvolk beim besten Willen nicht
alles abdecken können. Die Deutschen fragen sich dann manchmal, warum sind
dann die Österreicher in Drittländern so pingelig?
Was soll man gegen die erwähnten „Umarmungen“ machen? Patentlösungen
gibt es wohl kaum, notwendig wäre eine gewisse Ausgewogenheit: deutliche Ab-
grenzung im Prinzipiellen, ohne im Detail allzu schulmeisterlich oder kleinlich
zu werden. Man könnte dies vielleicht so formulieren: Der Große sieht das immer
anders als der Kleine, aber der Kleine sollte sich innerlich so groß fühlen (und auf
kulturellem Gebiet steht uns dies auch zu), dass er es bisweilen auch großzügig
übersehen oder mit distanziertem Sarkasmus quittieren kann, wenn ihn der an-
dere im Einzelfall als Kleinen oder Dazugehörigen behandeln will…
Dass es bei aller Respektierung unserer staatlichen Selbständigkeit und Un-
abhängigkeit doch in vieler Hinsicht ein „Sonder“verhältnis gibt, zeigt sich auch
bei der Behandlung des österreichischen Botschafters auf gesellschaftlichem Ge-
biet. Man wird zu praktisch innerdeutschen Runden auch auf sehr hohem Ni-
veau eingeladen, wo kein anderer Diplomat oder höchstens ein oder zwei Groß-
machtvertreter gebeten sind. Dabei kommt dann auch schon einmal ein gewisser
Annäherungsversuch vor, immer gut gemeint, aber doch deutlich. Da fragt man
sich manchmal, soll man oder soll man nicht hingehen? Ist „Mitmachen“ schon
ein nationaler Identitätsverlust? Ich habe solche Gelegenheiten fast immer wahr-
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99