Page - 173 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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China
Ankunft
Nachdem Rolf am 10. Februar 1920 aus dem Lager Perwaja-Rjetschka geflohen war, ge-
langte er ungehindert zum Bahnhof in Wladiwostok. Um möglichst schnell über die rus-
sische Grenze zu gelangen, war sein Ziel die unmittelbar angrenzende Mandschurei, die
seit 1905 zum chinesischen Territorium gehörte. Er fuhr zunächst mit der Transmand-
schurischen Eisenbahn Richtung Westen und bestieg sodann den Zug einer Nebenlinie,
die Richtung Süden verlief. Bereits in der Nähe der Küste überquerte die Eisenbahnli-
nie die »Große Mauer«, und im unmittelbar nach der Grenze erreichten kleinen Ort Pei-
taiho / Beidaihe stieg Rolf schlieĂźlich fĂĽnf Tage nach seiner Flucht aus dem Zug. Warum er
gerade diesen Ort als Endpunkt seiner Flucht gewählt hat, wird ewig im Dunkeln bleiben.
Naheliegender wäre nämlich gewesen, die Reise bis zur wenig weiter südlich gelegenen
Hafenstadt Tientsin / Tianjin fortzusetzen, wo Rolf sogar einen österreichischen Konsul
vorgefunden hätte – ob ihm das bekannt war, ist allerdings heute nicht mehr zu sagen.
Ungefähr 1918  /19 scheint Anton Brenner auf seiner Flucht den gleichen Weg ge-
nommen zu haben. Brenner trat unmittelbar nach der Absolvierung der Notmatura den
Kriegsdienst an und war in der Folge wie Rolf Kriegsgefangener in verschiedenen La-
gern Sibiriens. Vielleicht war Brenner sogar ein ehemaliger »Schüler« von Rolf gewesen.
Er berichtete nämlich, dass er während seiner Gefangenschaft »Architekturkurse« belegt
habe40 und aufgrund dieser guten Ausbildung in Tsingtau / Qingdao für die dort ansäs-
sigen deutschen Kolonialisten sogar eine Kirche und ein Schulhaus erbauen konnte. Die
Errichtung dieser Bauten muss unmittelbar vor dem Versailler Vertrag im Jahr 1919 er-
folgt sein, in dem die deutsche Kolonie an die Japaner ĂĽbergeben wurde. Schon ein Jahr
später kehrte Brenner nach Österreich zurück, studierte dann erst Architektur und wurde
in den 1920er- und 30er-Jahren in Wien und Frankfurt am Main ein gefragter Architekt.
So wie Brenner und Rolf haben auch andere ehemalige russische Kriegsgefangene –
teilweise nach erfolgreicher Flucht, teilweise nach der Entlassung aus der Gefangen-
schaft – zunächst den Weg nach China genommen, viele blieben für einige Zeit, man-
che fĂĽr immer. FĂĽr Rolf sollte der Badeort Peitaiho sowie die nahe gelegene Hafenstadt
Tientsin der kĂĽnftige Arbeits- bzw. Lebensmittelpunkt werden.
Peitaiho war ursprünglich ein kleines Fischerdorf. Als sich in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts vermehrt Ausländer in China niederließen und in Peking erstmals dip-
40 Akte Anton Brenner, Archiv d. Kammer fĂĽr Arch. u. Ing. Konsulenten f. Wien, NĂ–, Bgld.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273