Page - 94 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Image of the Page - 94 -
Text of the Page - 94 -
Kriegsgefangenschaft 094
diese Weise authentische Eindrücke. Wenn Brändströms Darstellung auch vorgeworfen
wird, dass sie – etwa bei statistischen Angaben – keine Quellenangaben nennt, so kommt
doch bis heute kaum eine Untersuchung ĂĽber die Gefangenenlager in Russland ohne
die Informationen aus Brändströms grundlegender Arbeit aus. Aufschlussreiche Analy-
sen aus größerer historischer Distanz bietet hingegen die im Jahr 2000 verfasste Disser-
tation von Georg Wurzer: »Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ers-
ten Weltkrieg«, die auch eine ausführliche Bibliografie enthält.
Für die Nachverfolgung von Rolf Geylings persönlichem Schicksal in den Jahren sei-
ner Kriegsgefangenschaft waren jedoch insbesondere die Informationen von Rolfs Sohn,
Franz Geyling, ausschlaggebend, die anhand von Briefen und späteren Erzählungen des
Vaters viel Erhellendes zur biografischen Aufarbeitung jener Jahre beigetragen haben.
»Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität
Die Behandlung von Kriegsgefangenen unterlag dem völkerrechtlichen Reglement der
»Haager Landkriegsordnung« oder »Haager Konvention«, die im Jahr 1907 von fast al-
len später kriegführenden Staaten unterzeichnet worden war. Darüber hinaus erließ die
russische Militärführung angesichts der rapide steigenden Zahl an Gefangenen im Lau-
fe der Jahre eine Reihe weiterer detailliertere Verwaltungsvorschriften, die zum Teil al-
lerdings gar nicht bis in die entfernten Lager gelangten. Somit waren die Gefangenen
in Sibirien letztlich stark von der Autorität der jeweiligen Lagerkommandanten abhän-
gig, die ihren Gestaltungsbereich entsprechend unterschiedlich nutzten. Wie Elsa Bränd-
ström berichtet, wurden als Lagerkommandanten entweder »aktive Offiziere eingesetzt,
die an der Front durch Alter oder völliger Untauglichkeit nicht mehr verwendet werden
konnten, oder am häufigsten Reserveoffiziere, denen es aus Scheu vor der Front gelun-
gen war, sich ein solches Kommando zu sichern. Als im späteren Verlauf des Krieges die
Reserveoffiziere immer mehr aus ungebildeten Schichten kamen, wurden auch aus ih-
ren Reihen viele Lagerkommandanten ernannt.« ( 
S. 57  ) Eine große Rolle im Verhalten
der Lagerkommandanten bzw. der Wachmannschaften spielte der Alkohol, wie zahlrei-
che Zeitdokumente belegen. Zwar galt in ganz Russland Alkoholverbot, doch wussten
sich die Wachmannschaften offenbar immer wieder mit Schnaps und billigem Wodka
zu versorgen. Exzessive Rauschzustände beeinflussten oft ihr Handeln, was sich in mas-
siven Willkürakten und sadistischer Grausamkeit äußerte.
Von besonders folgenreicher Bedeutung für die tatsächlichen Lebensverhältnisse der
Gefangenen war, dass die russischen Behörden für die Aufnahme so großer Gefange-
nenmassen bei Weitem nicht vorbereitet waren: Insgesamt gerieten rund 2,9 Millionen
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273