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Ewige Ungewissheit 247
Rolf schrieb den Brief im Dezember 1938. Im Jahr 1933, als Hitler in Deutschland zum
Reichskanzler ernannt worden war und sich in Österreich im Austrofaschismus stände-
staatliche und faschistische Ideen etabliert hatten, begann die gezielte Ausgrenzung der
Juden, die häufig bereits mit tätlichen Übergriffen verbunden waren. Insbesondere nach
dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 an das Deutsche Reich verschärften sich die
antisemitischen Repressionen, und mit der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf
den 10. November 1938 begann die systematische Verfolgung und Ermordung der jĂĽdi-
schen Bevölkerung auch in der nunmehrigen »Ostmark«.
Greta, die die Suche nach einer passenden Immobilie nie aufgegeben hatte, fand
schließlich Ende 1939 tatsächlich etwas Passendes. Es war eine kleine Villa, umgeben von
einem großen Obstgarten, die sich in dem beschaulichen Ort Emmersdorf in der Nähe
von Melk in Niederösterreich befand. Bemerkenswert ist, dass Hermine, die sich seit mitt-
lerweile beinahe 20 Jahren nichts sehnlicher wĂĽnschte, als in die Heimat zurĂĽckzukehren,
in die Pläne eines Hauskaufs scheinbar gar nicht eingeweiht war. Denn obwohl sich die-
ses Projekt ĂĽber mehrere Jahre hinzog und Rolf auch mehrmals seiner Schwester dies-
bezüglich schrieb, erwähnte Hermine in keinem ihrer Briefe dieses Vorhaben, und auch
Rolf äußerte sich nie über eine diesbezügliche Reaktion seiner Frau. Ursprünglich hatte
Rolf gehofft, dass einmal seine Mutter mit Greta in sein österreichisches Domizil einzie-
hen könnte. Nun, nachdem seine Mutter bereits verstorben war, eröffnete sich zumin-
dest für die Schwester die Möglichkeit, das Haus zu bewohnen. ( 
Farbabb. 29  )
Ewige Ungewissheit
Obwohl man aus Rolfs Briefen an seine Schwester Greta den Eindruck gewinnt, dass nur
Europa sich Ende der 30er-Jahre sichtbar auf die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges
zubewegt, während in China nach wie vor der geschäftsmäßige Alltag vorherrscht, ist
eine politische, militärische und letztlich auch wirtschaftliche Zuspitzung der Situation
doch auch in Rolfs unmittelbarem Lebensumfeld längst greifbar.
Zum Zeitpunkt der Okkupation der Mandschurei im Jahr 1931 hatte sich die japani-
sche Armee bereits weitgehend der Kontrolle des Parlaments und der Regierung Japans
entzogen und ging auf eigene Faust zur Besetzung weiterer Gebiete in China vor, wobei
auch Übergriffe auf die chinesische Zivilbevölkerung drastisch zunahmen. China konn-
te dem zunächst wenig entgegensetzen, da ein immer wieder aufflammender Bürger-
krieg zwischen den nationalistischen Kuomintang und der Kommunistischen Partei alle
politischen Entscheidungen lähmte. Diese Auseinandersetzungen hatten bereits mit der
GrĂĽndung der Kommunistischen Partei im Jahr 1921 begonnen. Im Jahr 1924 bildeten
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273