Page - 189 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Aufträge und Rückschläge 189
in der englischen waren asymmetrische Cottagehäuser aus Backstein oder neogotische
Herrenhäuser zu finden. Die unterschiedlichen Erscheinungsbilder einte jedoch der ge-
meinsame Drang nach einer möglichst repräsentativen, oft ins Bombastische ausarten-
den, romantisch-malerischen Gestaltung der Gebäude. Die Baukörper wurden vielfach
durch Vor- und RĂĽcksprĂĽnge, zergliederte Dachlandschaften, Balkone, Terrassen, TĂĽrm-
chen sowie Kuppeln aufgelockert und mit Ornamenten geschmĂĽckt, die verschiedenen
Stilepochen nachempfunden waren. Während sich in Europa die Architekten auch bei
neuen Bauaufgaben in gewisser Weise stets den Normen der originalen Stile verpflich-
tet fĂĽhlten, schienen sich die Architekten in China jeglichen formalen Verpflichtungen
entzogen zu haben bzw. vollkommen eklektizistisch vorzugehen. Dekorative Motive al-
ler vergangenen Epochen wurden vermischt, häufig äußerst individuell modifiziert und
gleichsam in einem Horror Vacui über die Gebäude verteilt.
Die auffallende stilistische Vielfalt hat auch der spätere US-Präsident Herbert Hoover
konstatiert, den der wirtschaftliche Aufschwung Tientsins angelockt hatte. Er lebte vor
dem Ersten Weltkrieg einige Zeit als Bergbauingenieur in dieser Stadt, und während
des Boxeraufstandes konnte er als Ortskundiger den US-Marines wertvolle Hilfe leisten.
Seinen ehemaligen Aufenthaltsort beschreibt er in seinen Memoiren treffend: «Tient-
sin is a universal city, like a world in miniature with all nationalities, all architectural sty-
les, all kitchens.«43
Aufträge und Rückschläge
Wie bereits erwähnt, war Rolf im Jahr 1920 nur einige Monate bei der Firma Shing Ming
Co. tätig und in dieser Zeit vorwiegend mit dem Ausbau des Badeortes Peitaiho be-
schäftigt gewesen. Im gleichen Jahr gründete er gemeinsam mit den deutschen Archi-
tekten E. Wittig und K. Behrendt die Firma Yuen Fu Building and Engineering Co. Ăśber
E. Wittig war nichts Näheres in Erfahrung zu bringen. Von seinem zweiten Partner Karl
Behrendt konnte jedoch mit Sicherheit festgestellt werden, dass er aus Frankfurt an der
Oder stammte und im Ersten Weltkrieg zur Verteidigung von Tsingtau / Qingdao in China
eingesetzt worden war. Qingdao stand von 1897 bis 1914 als Hauptstadt des »Deutschen
Schutzgebiets Kiautschou« unter deutscher Herrschaft. Zu Beginn des Ersten Weltkrie-
ges wurde das Gebiet jedoch von den Japanern besetzt und im Versiller Vertrag 1919 an
Japan abgetreten. Erst im Jahr 1922 wurde diese ehemals deutsche Kolonie der chine-
sischen Regierung ĂĽbergegeben. Behrendt geriet bereits im November 1914 in japani-
43 Vgl.: G. H. Thomas: An American in China. www.willysthomas.net (  Download am 17. 9. 2007  )
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273