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Epilog
Mit dem Tod ihres Ehemannes, der sie mehr als 30 Jahre zuvor zur Ăśbersiedlung nach
China ĂĽberredet hatte, war fĂĽr Hermine endgĂĽltig der Zeitpunkt gekommen, nach Eu-
ropa zurückzukehren. Das bedeutete, dass sie nicht nur die Auflösung der Wohnung
ĂĽbernehmen, sondern auch die Heimfahrt auf einem der mit ausreisenden Fremden
ĂĽberfĂĽllten Schiffe organisieren musste. Der Verkauf der Wohnungseinrichtung trug ge-
rade so viel ein, dass sie noch einige Tage in Tientsin, jetzt Tianjin, verbringen und die
Reise bezahlen konnte. Die verbliebene Zeit benĂĽtzte sie, um die Unterlagen der rund
250 Projekte, die Rolf in China ausgearbeitet hatte, zu sichten. Da ihr Mann viele seiner
Arbeiten mithilfe von Fotografien dokumentiert hatte, konnte sie zumindest einen Teil
dieser Beweise seiner Tätigkeit mitnehmen. Die vielen detaillierten Pläne seiner Projek-
te musste sie allerdings zurĂĽcklassen. Einen Teil ĂĽbergab sie fĂĽr Studienzwecke der von
den Jesuiten geführten Kung-Shang-Universität, an der Rolf einige Jahre als Professor
tätig gewesen war. Der Rest wurde vernichtet. Im Zuge der antikatholischen Repressali-
en im kommunistischen China, die auch die Jesuitenpatres der Universität betrafen, ist
allerdings in der Folge scheinbar alles Material verloren gegangen, zumindest ist es bis-
lang nicht mehr auffindbar.
Im Zusammenhang mit der Auflösung der Wohnung musste sich Hermine noch
einmal in nervenaufreibender Weise mit den Vorkehrungen ihres Mannes zur Vermö-
genssicherung auseinandersetzen, die ihm zeitlebens so wichtig gewesen war. Rolf
hatte viele Jahre zuvor Rohdiamanten gekauft und auch gut versteckt, wie sich Her-
mine erinnern konnte, aber der Ort des Verstecks war ihr entfallen. Am Vorabend des
Tages, für den die Firma für den Abtransport der Möbel bestellt war, saß Hermine ein
letztes Mal in ihrem Wohnzimmer und zerbrach sich den Kopf, wo sich die Diamanten
befinden könnten. Da schlug die alte Uhr, die Rolf von seinem Großvater geerbt hatte,
elf Uhr. Gleichsam magisch angezogen öffnete sie das Gehäuse – und tatsächlich fand
sich das Säckchen mit den Diamanten in diesem Familienerbstück. Der Fund sollte ihr
jedoch noch weiteres Kopfzerbrechen bei der Ausreise bereiten. Zunächst benötigte
Hermine allerdings ein Visum, wofĂĽr sie stundenlange Befragungen in Kauf nehmen
musste, ob nicht doch noch – nach so langem Aufenthalt und aufgrund der erfolgrei-
chen Tätigkeit ihres Mannes – allfälliger Besitz vorhanden sei. Fast schien es, als ob die
kommunistischen Bürokraten bereits vergessen hätten, dass schon zu Lebzeiten Rolfs
alles konfisziert worden sei. Schon dachte Hermine, dass sie kein Visum erhalten wer-
de. Da erinnerte sie sich an die »Auszeichnung«, die ihr Mann für seine Tätigkeit bei der
Schornsteinreparatur der Papierfabrik erhalten hatte. Sie wies dieses Papier vor – und
binnen kĂĽrzester Zeit wurde ihr das Ausreisevisum ausgestellt. Nun galt es aber, die
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273