Seite - 38 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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selbstbestimmten Menschen. Im Zuge der fortschreitenden „Formierung einer
Disziplinargesellschaft“54 lässt sich das Individuum einerseits „beschreiben, ab-
schätzen, messen, mit andern vergleichen“55 – andererseits lässt es sich „dres-
sieren oder […] korrigieren, […] klassifizieren, […] normalisieren“56. Durch
Praktiken, Techniken und Strategien versuchen Boxer ihre Körper zu formen,
fast schon zu erschaffen – um, derart gerüstet, sich der Kontingenzerfahrung des
Kampfes (und des Lebens wie des Denkens) auszusetzen. Es sind just diese viel-
fältig vernetzten körperexperimentellen und reflexiven Möglichkeiten, die bei
den Autorinnen und Autoren der Erzählliteratur auf besonderes Interesse sto-
ßen. Foucaults Dispositiv-Verständnis scheint sogar vor poststrukturalistischem
Hintergrund für die Bestimmung und Betrachtung des Boxens geeignet, kann
doch gerade der Faustkampf als Sport, poststrukturalistisch betrachtet, als eine
Tätigkeit aufgefasst werden, der ein „unauflösbare[r] Rest, den keine noch so ex-
akte Analyse“57 zu erfassen vermag, anhaftet: „Die poststrukturalistische Schule
interessiert sich weniger für Regularien“58, fasst Martin Lindner in Leben in der
Krise, seiner ausführlichen Mentalitätsgeschichte der Moderne, zusammen, „als
für Abweichungen. Deshalb ist auch die Terminologie programmatisch vage.“59
Im Vordergrund stünden deshalb auch Metaphern wie „Gewebe“ oder „Spiel“60
(in seinem Essay Überleben beschreibt Jacques Derrida selbst Texte als ein „Ge-
webe von Spuren“61). Christian Emden erläutert im Wörterbuch der philosophi-
schen Metaphern das Phänomen des Netzes:
Bereits in der Antike ist deutlich, dass die Metapher des Netzes eng verbunden
ist mit anderen Ordnungsmetaphern der Topik, Topologie und Topographie,
aber auch mit Metaphern des Gewebes und der Verschleierung. Der enge Bezug
zwischen Netz, Text und Kontext reichert diese Bedeutungsfelder weiter an und
kompliziert die Darstellung des Netzes als philosophische Metapher. Fest steht
allerdings, dass Netz und Netzwerk Beziehungen beschreiben, die abstrakte und
begriffliche Relationen in räumliche Bilder übersetzen. Netz und Netzwerk sind
stets Gebilde im Raum, die auf unterschiedliche Stadien von Ordnung und Orga-
nisation verweisen.62
54 Foucault 1977a, S. 249
55 Ebd., S. 246
56 Ebd.
57 Lindner 1994, S. 377
58 Ebd.
59 Ebd., S. 377f
60 Ebd., S. 378
61 Derrida 1994, S. 130
62 Emden 2008, S. 249
38 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440