Seite - 54 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Karikatur7 – in einer „Verschmelzung von Wirtschaft, Werbung, Mode, Medien
und Sport“8. Boxen bildet in der genannten Periode ein Feld, das von vielen
Rändern her bearbeitet wird, auch und vor allem abseits des unaufhörlichen
tagesaktuellen Informationsstroms der Zeitungen, Zeitschriften, Werbeschal-
tungen und Programmhefte.9 Thomas Mann erkennt 1929 in der Tatsache, dass
Gene Tunney ein Shakespeare-Leser und Max Schmeling mit George Grosz
befreundet ist, die Zeichen der Zeit. Das dürfe man, so Mann in der Rede über
das Theater, „Symptome“10 nennen. Die Praxisfelder Körper und Kampf sind da-
bei augenfällig im Bild vom Boxen aufgehoben. Das vollständige Programm
des Faustkampfs findet sich dessen ungeachtet von der Weimarer Gegenwart
verdeckt: in Spiegelungen und verklausulierten Reflexionen. Im Boxen scheinen
sich Dispositionen anzudeuten, die auf angrenzende politisch-soziale Praxis-
und Theoriefelder verweisen: Ausdauer, Kampfgeist, Technik, Kraft, Körperbe-
herrschung, psychophysisches Wappnen in einem Wettkampf mit performativen
und zirzensisch inszenierten Anteilen, vermittelt durch einen „rituellen Zyklus
von Unordnung und Ordnung, Anarchie und Herrschaft, Rebellion und Res-
tauration“11. Im Boxring agieren die Sportler ebenfalls auf einem weiten Feld
diskursiver Kollisionen und Mehrfachkonnotationen. Der Boxer erscheint ge-
wissermaßen als diskursives Gewebe aus Heroentum und Trainingskalkül, Me-
galomanie und Massenkultur, Wettkämpfer und Showstück; der Boxring dient
als bevorzugte Bühne sportiver Heldennarrative; Abertausende finden sich in
den Rängen der Stadien ein, um Zeuge zu werden, wie Boxer die existenziel-
len Erfahrungsmöglichkeiten des Extrems austesten. Nicht umsonst liegt der
Rede von der „Goldenen Ära des Boxsports“12, die im deutschsprachigen Raum
in Berlin ihr geografisches Zentrum findet, ein spezifischer Gebrauch boxeri-
scher Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata zugrunde: Im Boxen finden
sich auf den ersten Blick populäre Tonlagen, Epochensignaturen und Reflexio-
nen abgebildet, überlagert und instrumentalisiert. Neben Tempo und Dynamik,
den zeitgenössischen Inbegriffen des Großstädtischen13, lassen sich im und um
den Ring weitere epochenkonstitutive Elemente ausmachen: Masse, Licht- und
Lärmdiskurse sowie das Verehrungsbedürfnis für die Sportheroen – und damit
7 Vgl. Berg 1993, S. 15f; Dierker et al. 1986, S. 174f; Gamper 2003, S. 43; Cowan, Sicks 2005, S.
23; Witt 1982, S. 195
8 Junghanns 2001, S. 19; vgl. Fleig 2008, S. 86f; Fischer 1999, S. 62
9 Vgl. Repplinger 2008, S. 88
10 Mann 1960b, S. 293
11 Junghanns 1997, S. 141
12 Kohtes 1999, S. 60 (Hervorh. im Orig.)
13 Vgl. einschränkend Lethen 1994, S. 71: „Das ‚Tempo‘ ist eine Worthülse, die auf jeden Inhalt
passt, die beliebig auslegbar ist und deshalb jeden Wandel unbeschadet übersteht.“
54 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440