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schaft“45, der es vorrangig darum geht, jede Gemeinsamkeit sogleich im „Säure-
bad der Konkurrenz“46 aufzulösen, deshalb auch nahezu modellhaft ab.47 Boxen
steht ganz im „Einklang zur Berliner Zeitstimmung“48 – geprägt vom „Ja-Sa-
gen zu Brutalität und Raub“49 und kollektiver Hurra-Heiterkeit, in Erwartung,
wie Willy Haas formuliert, der „große[n] Keilerei“50: „Vertragssysteme haben
keine Geltung mehr, Gewalt wartet nicht an der Peripherie des Gemeinwe-
sens, sondern prägt den Alltag, von fairem Wettbewerb kann keine Rede sein“51.
Angesichts der parlamentarischen Endlosrededuelle und des parteipolitischen
Kleinkleins stellt selbst ein liberal gesinnter Autor wie Alfred Döblin befremdet
fest, dass um „Banalitäten“52 gar „wütende Kämpfe“53 entstünden. Die Prüde-
rie der wilhelminischen „Stehkragenzivilisation“54 wird von der vitalistischen,
kontrolliert Gewalt ausübenden und auf Nahkampf zielenden Kraftmeierei des
Boxens abgelöst: Der „Habitus des Angriffs“55 ist dem Weimarer Zeitgenossen
vom Boxen her vertraut. Ideologisch wird die Präferenz des Boxens durch die
seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzende Lektüre der Werke So-
rels, Nietzsches und Hobbes’ unterfüttert, die zu einer schrittweisen Kultivie-
rung des Bewusstseins von Gefahr und Körperlichkeit, Kräftebewusstsein und
Konkurrenzkampf beitragen56. In den 1920er-Jahren schlägt die Stunde der
Boxer – katalytisch verstärkt von Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken sowie
einer agonalen Gesellschaftsstruktur57, die nach „List, Tücke, […] Gewalt“58
giert. Boxen findet in diesen Jahren inmitten von sozialer Aufsplitterung und
Ich-Vereinzelung statt, vor dem Hintergrund einer pluralistisch verfassten, an-
onymisierten Gesellschaft. Der französische Autor Yvan Goll, in Deutschland
für seine Lyrik bekannt, klagt 1926 in dem Feuilleton Die Neger erobern Europa
über die „Zersetzung des Ich, Zersetzung der Welt, Verzweiflung an der Welt im
Ich, das konstante, irrsinnige Drehen des Ich um sich selbst“59. Und Kurt Pin-
45 Peukert 1987, S. 267
46 Beck 1983, S. 47
47 Vgl. Lethen 1994, S. 8
48 Lethen 1986, S. 206
49 Ebd.
50 Zit. n. ebd.
51 Lethen 1994, S. 142
52 Döblin 1983, S. 44
53 Ebd.
54 Kohtes 1999, S. 62
55 Lethen 1994, S. 139 (Hervorh. im. Orig.)
56 Vgl. Lethen 1994, S. 122
57 Vgl. Nutt 1990, S. 259
58 Vgl. Benn 1968, S. 899
59 Goll 1983, S. 256f
58 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440