Seite - 59 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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thus überblendet die Denkhaltung des Konfrontativen mit Bildern des Boxens:
„Trotz sicherlich erhöhter Reizbarkeit sind durch diese täglichen Sensationen
unsere Nerven trainiert und abgehärtet wie die Muskulatur eines Boxers gegen
die schärfsten Schläge.“60
Individualerfahrung. Kollektiv in die Krise
Dem vaterländischen Rausch, der die Nation unter Hurra- und Hochrufen als
Schicksalsgemeinschaft 1914 in den Krieg ziehen lässt, folgen kalte Ernüchte-
rung und die Grunderfahrung der „Orientierungslosigkeit“61. Man fühlt sich
spätestens 1918 in eine stumpfe „Nichtzeit“62 versetzt, in der das „Herr-des-
eigenen-Lebens-Sein“63 nicht mehr möglich scheint. Die Erfahrung der Krise
wird bald auf die Stellvertreterfigur des zum rebellischen Einzelkämpfer stili-
sierten Boxers projiziert. In bewegter Epoche treibe man, notiert Karl Jaspers
in Die geistige Situation der Zeit, im „Dasein wie in einem Meere“64. Für die
Spanne weniger Ringrunden schaffen Boxer dagegen Klarheit und Halt: Die
Regeln, Vorgehensweise und das Ziel der boxsportlichen Unternehmung sind
augenfällig fixiert. Georges Sorel notiert 1908 in einem Brief, dass die Zeitge-
nossen von „bösartigen Mächten“65 umgeben seien, „die stets bereit sind, aus
einem Hinterhalt hervorzutreten, um sich auf uns zu stürzen und uns zu Boden
zu schlagen; von da entspringen sehr wirkliche Leiden.“66 Im Ring mit seinem
Regelwerk wirkt derweil fast schon ostentative Ordnung – das offene Spiel der
Muskelkraft. Auf den Boxer als Integrationsfigur einigen sich Linke, die Soli-
daritäts- und Parteidenken favorisieren, wie Rechte, die Vorstellungen von Volk
und Kameradschaft präferieren.67 Die politischen Kräfte von Rechts und Links,
die sich feindlich gegenüberstehen68, können im Boxer den furchtlosen Einzel-
kämpfer wider das Establishment oder den gesellschaftlichen Paria, den Rächer
oder Rebellen, den tumben Muskelprotz oder den gewieften Krafttaktiker er-
kennen. Die Glorifizierung von Drill, Disziplin, Siegesgewissheit, Erfolgsden-
ken und schnellem Gelderwerb können im Boxer dagegen liberal gesinnte Zeit-
60 Pinthus 1965, S. 130
61 Peukert 1987, S. 266
62 Wendler 1974, S. 170
63 Ebd., S. 177
64 Jaspers 1998, S. 30
65 Sorel 1969, S. 19
66 Ebd.; der Philosoph Wilhelm Benary erkennt im Sport 1913 das „ideale Kampffeld“, vgl. Benary
1913, S. 45
67 Vgl. Wendler 1974, S. 170f
68 Vgl. Büttner 2008, S. 298f u. 303 59
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440