Seite - 75 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 75 -
Text der Seite - 75 -
Hier die „konfuse und opake Welt“230 mit ihrer „unüberschaubar gewordenen
Umwelt“231; da, notiert Siegfried Kracauer in Ansichtspostkarte, die „haushohen
gläsernen Lichtsäulen, die bunten überhellen Flächen der Kinoplakate und hin-
ter den Spiegelscheiben der Wirrwarr gleißender Röhren“232; das elektrifizierte
Leuchten entfremde die „Masse ihres gewohnten Fleisches“233, ergänzt Kracauer
in dem dokumentarischen Essay Die Angestellten; fasziniert streift der Essayist
durch den Frankfurter und Berliner Lichtfunkenregen; aber selbst ein mit un-
bestechlicher Intelligenz ausgestatteter Auskundschafter der Epoche wie Kra-
cauer gesteht dem großstädtischen Strahlen und Gleißen „geheime Kräfte“234
zu. Es scheint daher nur folgerichtig, dass der Prozess der Moderne diskursive
Ausbruchsversuche in andere Sinnsphären fördert. „Wer dies Schicksal der Zeit
nicht männlich ertragen“235 könne, notiert Max Weber 1919 in Wissenschaft als
Beruf, flüchte sich angesichts der „Entzauberung der Welt“236 in die Arme der
Pseudoreligion Sport. Der Buchtrödler Eckenpenn in Paul Gurks Großstadt-
roman Berlin verirrt sich in die aufgeladene Atmosphäre eines Boxkampfta-
ges; der Boxring, über dem der „neue Gral“237schwebt, die Jupiterlampe, die mit
ihrem „bläulichen Lichtgezisch von unerhörter Helligkeit“238 eine Fläche von
gut sechs mal sechs Metern ausleuchtet, erscheint Eckenpenn als „Altar“239; das
Geschehen im Boxring lässt die Zuschauer ekstatisch „in Zungen reden“240. Es
gebe, proklamiert Gurk mit expressionistischem Pathos, „nur einen Gott. Mus-
kel! Und Tempo ist sein Prophet!“241 Der ‚große Sportsmann‘ ist Prophet und
Märtyrer der ‚Sport-Religion‘ zugleich“242, schreibt Wolfgang Rothe in Sport
und Literatur in den zwanziger Jahren, ein „Homo religiosus“243, der den Kult um
Mut, Kraft und Muskeln vorantreibt.
230 Junghanns 2001, S. 5
231 Dierker et al. 1986, S. 175
232 Kracauer 2011a, S. 241
233 Kracauer 2006, S. 294
234 Ebd.
235 Weber 1951, S. 596
236 Ebd.
237 Gurk 1980, S. 303
238 Ebd.
239 Ebd.
240 Ebd.
241 Ebd.; Hans Geisow spricht ebenfalls vom „Gottesdienst des Sportes“ und von Sport als einem
Gottesdienst, vgl. Geisow 1925, S. 96
242 Rothe 1981, S. 146
243 Ebd., S. 143 75
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440