Seite - 81 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Die Soldaten, die mit verkrüppelten Körpern von den Schlachtfeldern des Ers-
ten Weltkriegs heimkehren, signalisieren den Zeitgenossen die radikale Schwä-
chung, wenn nicht die Verheerung des seit Ende des 19. Jahrhunderts hochge-
haltenen und durch Friedrich Jahns Drillturn-Imperativ belebten Phantasmas
vom nationalen Kollektivkörper, dem sich der Einzelne, in Pro-Kriegsgeschrei
wie folgendem Kriegsgetümmel, freiwillig untergeordnet hatte.306 „Der Welt-
krieg, der alles menschliche Elend gehäuft in sich enthält, ist auch ein Krieg der
Nerven, mehr Krieg der Nerven als je ein früherer Krieg. In diesem Nervenkrieg
unterliegen nur allzuviele“307, berichtet Franz Kafka in November 1916 in der
amtlichen Schrift Deutscher Verein zur Errichtung und Erhaltung einer Krieger-
und Volksnervenheilanstalt in Deutschböhmen in Prag. „Der nervöse Zitterer und
Springer in den Straßen unserer Städte ist nur ein verhältnismäßig harmloser
Abgesandter der ungeheuren Leidensschar.“308 Die propagierte Idealität des
Sportkörpers lenkt ab von der Nachkriegsmisere und vom Menschenbild des
„homo protheticus“309. Wie erging es den „Armeen von Krüppeln, die 1918 in
ihre Vaterländer zurückströmten?“310, fragt Peter Sloterdijk in seiner Kritik der
zynischen Vernunft. Der bürgerliche Traum von der „Ganzheit“311, so Sloterdijk,
habe sein Ende gefunden. Der Boxer dagegen tritt an, blinde Illusionen und
Hoffnungen zu generieren: Den Zeitgenossen, die den Gewittern von Stahl und
Schrapnell ausgesetzt waren, wird das Unvermögen des menschlichen Körpers
schmerzhaft vor Augen geführt; es bleibt der Gestalt des Boxers, vor aller Augen
auf dem hell erleuchteten Podium sichtbar, vorzugeben, dass Mensch und Tech-
nik, Korpus und Höchstleistung noch fehlerfrei zu verschalten seien.312 „The
image of the lone, heroic fighter, who relied on nothing but strength and instin-
cts, moreover, offered an inspiring and nostalgic counterpoint to the anonymity
of modern, mechanized warfare“313, bemerkt dazu Erik N. Jensen in der Pub-
likation Body by Weimar. Als eine personifizierte Projektionsfläche „verlorener
Ganzheit und möglicher Lösungen“314 erfährt der Mann im Ring profane Hei-
ligsprechung.315 Neue Körperreden und ein neues Körpererleben greifen Platz;
306 Vgl. Alkemeyer 2009, S. 51; Maase 2007, S. 97
307 Kafka 1984, S. 295
308 Ebd.
309 Vgl. Sloterdijk 1983, S. 794–797
310 Sloterdijk 1983, S. 791; Gunter Mai geht als Folge des Ersten Weltkriegs von mehr als 20 Mil-
lionen Verwundeter und Verstümmelter aus, vgl. Mai 2001, S. 7
311 Ebd., S. 778
312 Vgl. Gebauer 2009, S. 202f
313 Jensen 2013, S. 60
314 Fleig 2008, S. 19
315 Vgl. Sammons 1988, S. 49f 81
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440