Seite - 82 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Boxen begeistert durch institutionalisierten Kampf, reglementierte Kraftver-
schwendung und manipulierbaren Körperverschleiß; der Boxer weiß sich dem
„gefährlichen Augenblick“316 der Weimarer „Präsenzkultur“317 zu stellen. In den
stereotyp geprägten Bildern des Boxens vereinen sich letztlich Körperkraft und
Kraftbeherrschung; Drill und Disziplin; Vielseitigkeit und Virtuosität; Tech-
nikbegeisterung und regulierter Tatendrang; das Ziel lautet „totale Funktionali-
tät“318. Die beim Boxen angewandten Praktiken überschreiten aber zugleich die
Grenzen traditioneller Körperimagination. Boxer werden zu Bedeutungsträgern,
indem sie Körperästhetisierung und Körpertechnisierung, Körperstilistik und
Kraftdominanz, Spontanreaktion und Stehvermögen erzwingen. Der Unsicher-
heit und Brüchigkeit, den bestimmenden Gefühlslagen der Moderne, hält der
Boxer Wirkungsvermögen, Ausdauer und Leistungsbereitschaft entgegen. Die
Gestalt des Boxers wird zu einem „Symbol für Totalität“319 hochstilisiert und
gegen die aus der Epoche des Wilhelminismus rührende Furcht vor dem „nich-
tidealen Körper“320 in Stellung gebracht; der Boxer verkörpert das Gegenpro-
gramm zur Angst vor dem körperlichen Formverlust, welche für die Zwischen-
kriegszeit bestimmend ist321; es gilt, den „Grenzwert des Amorphen“322 nicht zu
überschreiten; nicht nur die „Fanatiker des Sich-in-Form-Bringens“323 blicken
im „Gefolge der Gestaltlosigkeitserfahrung des Ersten Weltkriegs“324 zum Bo-
xer hoch. Die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung trägt
zusätzlich zu einer Neubestimmung des Körperlichen bei. Der zuvor kultivierte
Entwurf des harmonisch-schönen Körpers wird, von den neu erschlossenen
Wissensgebieten der Physiologie und Psychologie irritiert, von einem Körper-
modell verdrängt, bei dem Effizienz und Leistungsvermögen im Vordergrund
stehen325; die Gestalttheorie gießt Bewegung in Zahlenkolonnen um.326 Die
Bühne des Boxens dient deshalb auch bald als ein wesentlicher Präsentations-
und Austragungsort moderner Körperwahrnehmung; der Boxer, der moderne
Asket, der sich für den Sieg im Ring kasteit und sich, wie das Klaus Theweleit
in seiner kultur- und körperkritischen Schrift Männerphantasien dem Solda-
316 Bohrer 1981, S. 43
317 Gumbrecht 2005, S. 41
318 Fischer 1999a, S. 114
319 Sicks 2006, S. 201
320 Wedemeyer 1999, S. 38
321 Vgl. Lethen 2014b, S. 230
322 Lethen 2014a, S. 80 (Hervorh. im Orig.)
323 Ebd.
324 Wolf 2011, S. 181
325 Vgl. Wedemeyer 1999, S. 37; Cowan, Sicks 2005, S. 15
326 Vgl. Wertheimer 1925, S. 19f
82 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440