Seite - 90 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Gerührt, erschüttert und gehoben frage ich mich und dich, o Leser, die wir alle
Boxer sind im Ring des Lebens, ob es in unseren Kämpfen ebenso moralisch, rit-
terlich, objektiv, sachlich – fast möchte ich sagen philosophisch zugeht, wie auf
dem seilumgürteten Podium der Faustkämpfer.
Wie im Leben gilt auch hier, daß der eine stärker und der andere schwächer ist.
Dies ist ein Gesetz, das so lange die Menschen Fäuste haben, in Gültigkeit bleibt.
[…] Wo ist in der Arena der größeren Boxer der Schiedsrichter, dessen Wink man
aufs peinlichste befolgt und der bis Zehn zählt? Wo ist in der Weltgeschichte der
mächtige Unparteiische, der sagt: Stop, hier liegt einer am Boden: wer weiter zu-
schlägt ist ein Feigling und wird disqualifiziert!380
Den aktiven Boxern wird gutgläubig Erfahrungskompetenz zugeschrieben.381
Kurt Prenzel behauptet in der autobiografischen Schrift Wie ich zum Boxen kam,
wer im Ring stehe, der habe sein „Schicksal in der Hand“382; sein Kollege Au-
gust Kudernatsch fordert in dem Manifest Lebe für deine Gesundheit, dass in
der „Zeit des harten Kampfes ums Dasein“383 die Jugend durch den „Sport zu
energischen, seelisch widerstandsfähigen Menschen“384 geformt werden müsse.
In den Köpfen der Weimarer Zeitgenossen finden überhitzte Amalgamierungen
vom Auf und Ab des Lebens mit den diskursiven Formationen des Boxens statt:
Das Dasein wird zu einer Krise in Permanenz erklärt; im Boxen feiert sich das
Pathos des Überlebens.385 Hans Natonek koppelt Alltagsdeprivation und Ring-
gefahr zum Hymnus Bruder Boxer:
Ohne ersichtlichen Grund stürzen sich zwei Männer aufeinander und schwingen
nach einem bestimmten Ritual, das dem Laien verschlossen bleibt, die ledernen
Tatzen. […] Und wenn der eine am Boden liegt, macht der andere ihm nicht noch
den Garaus oder setzt ihm den Siegerfuß auf den Nacken, wie wir das im Leben
und in der Politik täglich sehen, ohne „Pfui“ zu rufen – nein, der Sieger drückt
den Besiegten gerührt an die freudig durchwogte, feuchtglänzende Brust, und sie
schütteln einander, so weit der Ausgeschlagene dazu noch in der Lage ist, die le-
derbewehrten Tatzen. […] Dem Geschlagenen im Ring wenden sich die feuchten
Augen schöner Frauen zu, und er bekommt seine wohlverdiente Prämie, wie der
380 Natonek 1994, S. 230f
381 Ror Wolf ironisiert den Topos; in dem Kurztext Die Folgen der Worte schickt er einen Boxer in
den Ring, der „sämtliche Schläge der Welt“ (Wolf 1991, S. 45) erträgt
382 Prenzel 1922, S. 173
383 Kudernatsch 1927, S. 3
384 Ebd.
385 Vgl. Lindner 1994, S. 162f
90 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440