Seite - 144 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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zuvor ein „Nichts, ein überflüssiger Statist“239 gewesen war, der „nicht stark ge-
nug gewesen wäre, den Kampf aufzunehmen gegen das Leben“240, durch Boxen
seine „Wiedergeburt“241; Boxen veredelt Franken zum „Zukunftschampion“242
und „Triumphator“243. In der dritten Runde kehrt Heino Franken mutlos als aus-
gemusterter Soldat in das Berlin des Jahres 1920 zurück.244 Allein Boxen weckt
in ihm einen maßlosen Selbstbehauptungswillen:
Manchmal wurde ihm bange. […] Aber dann wuchs ein Trotz in ihm auf gegen
die Welt, die sich so seltsam verändert hatte und ihm die Rolle eines Gladiators
aufzwang. […] Aber er war ein Wissender geworden. Wer sich nicht regte, wurde
niedergetreten;
wer nicht schwimmen konnte, versank! Und in ihm brannte der Trotz,
der ihm Kraft gab, sich in harter Selbstzucht zu stählen. Geld – das war auch sein
Ziel. Geld sollte ihn schadlos halten für alles, worum ihn das Leben betrogen. Er biß
sich die Lippen blutig, wenn er die Reichen in ihren Autos vorübersausen sah […].
Mochten sie mit ihrem spekulativen Geiste den Erfolg an sich gekettet haben, er
würde ihn mit seinen Fäusten zwingen. Für ihn war der Kampf, dem er entgegenging,
nicht nur eine Prestigeangelegenheit; für ihn bedeutete er die Antwort auf die Frage,
ob er stark genug war, sich in der gischtenden Brandung der Gegenwart zu behaup-
ten. Für ihn bedeutete ein Sieg die Bejahung eines neuen Lebenszwecks, bedeutete
einen Triumph seines neuen Menschen über Vergangenheit und Ueberlieferung! Zäh
arbeitete er seinem Ziel entgegen. […] Er mußte entbehren, um zu besitzen!245
Im Anschein existenzieller Ausgesetztheit drängt sich der Boxsportler den Op-
fern der „sozioökonomischen Dauerkrise“246 geradezu als ein Leitbild auf. Die
Boxerfigur, die demonstriert, wie durch Eigenleistung und Selbstzwang Geld-
vermögen und Popularität zu erlangen seien, hält im zeitgenössischen Sozial-
typen-Panorama jenen Pol besetzt, an dem die Glücksuche und Machbarkeit
des Lebensglücks am augenfälligsten angesiedelt sind: Körper, Kraft und Kampf
sind integrale und weitestgehend selbstverantwortete Kernbestandteile der Su-
che nach Sinn. Auf dem Feld der Trivialliteratur greifen selbstkonstitutionelle
Technologien – Körpertechnisierung, Training, Boxen als Lebensbewältigung
– nicht; der Athlet sieht sich im Verheißungsvakuum gefangen. Jenem Boxer,
239 Schievelkamp 1920, S. 39
240 Ebd.
241 Ebd., S. 60
242 Ebd., S. 66
243 Ebd., S. 120
244 Vgl. Schievelkamp 1920, S. 12ff
245 Ebd., S. 76f
246 Sicks 2004, S. 384
144 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440