Seite - 164 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 164 -
Text der Seite - 164 -
Geist werden zentrale Signaturen des Boxens aufgerufen. Das Duell findet zu-
dem vor Zuschauern statt, die „sich stiller verhielten als in der Kirche, wenn
der Priester die Messe zelebrierte“23, und jeder der beiden Duellanten in dem
boxkampfähnlichen Kräftemessen weiß, dass „er vor unerlaubten Schlägen des
anderen sicherer sein konnte als im Ring. Denn hier gab es nicht einen, hier
gab es hundert scharf aufpassende Ringrichter.“24 Der Sportboom der 1920er-
Jahre hält mit aller Macht Einzug in die Provinz. Der als Augenarzt beruflich
arrivierte Doktor Huf, in der Gunst um Hannas Zuneigung Thomas’ Rivale –
und Auslöser des Kneipenstreits, der ins Boxen mündet –, zählt „zu denen, die
den Körper zu gering schätzen und dadurch auch in der Seele tiefere Wunden
empfangen als wir“25. Huf ist deutlich als Gegenfigur zu Thomas aufgebaut:
„Er gehört einer vergangenen Zeit an. Er ist eine stilreine Antiquität in einem
Hochhaus aus Eisenkonstruktion. Er gehört ins Museum. Uns gehört der Tag.
Wir gehen hinaus ins Blaue und bleiben dabei nüchtern.“26 Thomas geht aus der
boxkampfähnlichen Schlägerei als Sieger hervor:
Sie blieben eng ineinander verfilzt, bis ein langer Steinbrucharbeiter […] den
Kirchplatz ganz zum Ring erhob: die Gegner, den Regeln entsprechend, trennte.
Beider Wäsche, Fäuste und Gesichter waren blutverschmiert, und niemand wußte,
wessen Blut es war.27
Boxen hat sich im deutschen Hinterland des Jahres 1927 noch nicht als Mas-
senphänomen etabliert. Der „Schutzmann kam zwei Sekunden zu spät. Er
wurde umringt und von so vielen gleichzeitig aufgeklärt, daß er zunächst gar
nichts erfuhr.“28 Als Mittel von Körpernormierung und Selbstmobilisierung, die
über das Private hinausgehen, beginnt Boxen im Ochsenfurter Männerquartett
ebenfalls Platz zu greifen. Thomas ist, „als hätte er durch den siegreichen Kampf
einen großen Vorrat an Lebenssicherheit gewonnen“29; Boxen fängt an, sich als
eine Art von Autosuggestion zu etablieren. Als Thomas erfährt, dass Hanna von
Huf gekĂĽsst worden ist, prahlt er:
Er werde keine Rücksicht auf sich nehmen. Möge diese Wunde in ihm sein. War
eben die Frage, ob er das aushielt. Sport! Und in ihm verkrusten. […] Aber ein
23 Ebd.
24 Ebd., S. 99
25 Frank 1936, S. 109
26 Ebd.
27 Ebd., S. 100
28 Ebd.
29 Ebd., S. 107
164 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440