Seite - 170 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Sensationell! Der Entscheidungskampf um die Weltmeisterschaft, um die
Weltherrschaft, zwischen Munk dem Europameister, genannt Dictator mundi,
und dem asiatischen Meister Mai Lung Fang, genannt die chinesische Wildkatze.
Versäume niemand, der weltgeschichtlichen Entscheidung beizuwohnen.52
Heinrich Manns Roman Die große Sache unterläuft in anderer Hinsicht gebräuch-
liche Vorstellungsbilder vom Boxen. Margo, eine der Töchter des Protagonisten
Birk – ein „Entdecker und Pionier […] aus dem heroischen Zeitalter der Tech-
nik“53, der rastlos nach der großen Sache aus dem Romantitel (einem Sprengmit-
tel, das sich als pure Fiktion entpuppen wird) jagt –, versetzt sich in der Abgeschie-
denheit ihrer Wohnung gedanklich in einen zeitgleich stattfindenden Boxkampf
im Sportpalast hinein; in sicherer Distanz wähnt sich Margo am Ring, bei dem in
der Sporthalle abgehaltenen Duell zwischen Bruno Brüstung, dem literarischen
Spiegelbild Max Schmelings54, und dem als übermächtig charakterisierten Gegner
Julio Alvarez.55 „In ihren Ohren war ein Getöse, als wäre sie mit dem Sportpalast
durch Radio verbunden gewesen. Das bedeutete Händeklatschen, sie unterschied
auch Zurufe, ohne den Namen des Siegers zu verstehen.“56 Mann, der in Die große
Sache „keinen Aufwand an Kolportage“57 scheut, vollzieht mit Hilfe des Boxens das
Wechselspiel von Einbildung und Realität; Margos flirrendem Tagtraum setzt der
Autor ein unsanftes Ende: „Plötzlich erschrak sie. Das Läutewerk rasselte, es war
nicht im Sportpalast, es war hier im Zimmer – das Telefon, auf dem sie die Hand
hielt. Wie lange schon?“58 Boxen, das reine Präsenz suggerieren und sich in zahl-
losen Trivialtexten als populäres Junktim von Mode und Modernität feiern lässt,
wird zu einer Momentaufnahme, zu einem bloßen Hirngespinst von erschöpften
und abgewirtschafteten Boxern. Der mit übertriebener Bedeutung aufgeladene
Gongklang wird vom blechernen Scheppern des Telefons abgelöst.
Der Ring produziert – von der Trivialliteratur, wie gezeigt wurde, völlig un-
kritisch betrachtet – schiere Brutalität. Erich Kästner beobachtet in Boxer unter
sich, wie der Boxer Franz Diener „und der Halbschwere“59 in den Ring klettern:
Die Boxer werden handgemein. […] So sieht also ein Freundschaftskampf aus!
Diener blutet aus der Nase, daß es eine Art hat. Und da ihm das nicht recht ist,
52 Ebd.
53 Mann 1972, S. 273
54 Vgl. Schütz 1986, S. 119
55 Vgl. Mann 1972, S. 144–152
56 Ebd., S. 143
57 Schütz 1986, S. 119
58 Mann 1972, S. 152
59 Kästner 1998a, S. 170
170 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440