Seite - 173 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Hahn wird nach ihm krähen“75. Die folgende Beteuerung des Ich-Erzählers, Brei-
tensträter nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen, erscheint durch die eigen-
willige Subjektbestimmung – „was“ statt „wer“ – jedoch mehr als zweifelhaft: „Wir
Zeitgenossen wissen ohnehin, was Breitensträter ist.“76 Es scheint nicht mehr re-
levant, wer der Boxer, sondern was er ist. Das Versprechen, Breitensträter nicht
aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen, klingt wie die Weiterführung der
Boxsportboom-Idee unter Zwang, deren umfassende Wirkkraft spätestens 1924,
zur Zeit der Publikation von Der Kampf um die Meisterschaft, bereits im Schwin-
den begriffen ist: „Unsere kleinen Enkel, die vor dem Sportpalast Zigaretten rau-
chend warten, werden ihn auch nicht vergessen.“77 Ohne die Einbeziehung der
mit Boxen vielfach verstrickten diskursiven Kategorien und nicht diskursiven For-
mationen entspräche die Literarisierung dieses Sports in der Zwischenkriegszeit
einer eher kurzlebigen Prosamode: Das Genre des Boxerromans, das durchweg in
Heftreihen mit entsprechend publikumswirksamer Aufmachung publiziert wird,
flankiert das Aufblühen des Weimarer Berufsboxsports nur für ein knappes Jahr-
zehnt. Die Bärenstärke des Boxers erweist sich in den Schriften der Hochliteratur
deshalb auch bereits als Schwäche, der Wagehals als Witzfigur der Weltgeschichte.
„Der Zeitgeist streckt den Bizeps und erfüllt / mit Knock-out und Bauchstoß das
Jahrhundert“78, stellt Joseph Roth im Lobgedicht auf den Sport die Überbetonung
des Sportiven in der Paradefigur des Boxers bloß: „Es schwand schon oft des flüch-
tigen Ruhmes Schein, / von einem, der nur Kunst und Weisheit schwitzte – / doch
nie von dem, der jemals Blut verspritzte –– / Und es zerschellt wie Glas der Weisen
Stein / an eines guten Boxers Nasenbein.“79
Es ist nicht ohne Witz, dass Boxen in der elaborierten Literatur so letzten
Endes zu einem Betätigungsfeld für renitente Jugendliche wird; die Gestalt des
Boxers, die im Bestiarium der Weimarer Charaktertypen trivialliterarisiert als
unerreichbares Phantasma dargestellt wird, scheint von ihrem Sockel gestürzt.
Boxen nimmt, wie später noch im Detail zu zeigen sein wird, nicht nur an die-
ser Stelle mehrere Pole in sich auf: Lebensmentalitäten; bestimmte Praktiken
und Ideologien; Fach- und Alltagskenntnisse. Ein Knabe namens Adolf legt
sich also in Erich Kästners Kinderreimgeschichte Der Preisboxer mit körper-
lich unterlegenen Nachbarschaftsburschen an und will die „kleinen Kerls zu
Kuchenteig“80 hauen; Fritz, gerade mit seiner Familie in das Haus von Adolfs
75 Roth 1990d, S. 74
76 Ebd.
77 Ebd.
78 Roth 1990c, S. 8
79 Ebd.
80 Kästner 1998b, S. 30 173
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440