Seite - 175 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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nun dem Boxer aus Portsmouth oder jenem aus Plymouth der Sieg gebührt.
Kleists Anekdote dient der boxkritischen Literatur der 1920er-Jahre offenbar
als wichtiger Orientierungshintergrund. In ihrer Schreibhaltung eint die Au-
toren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nämlich nicht mehr der naive Glaube an
die boxsportlichen Evidenzen von Sieg und Niederlage; sie streben die diskur-
sive Unterwanderung der Vorstellungsbilder vom Boxen an. Den ausgehärte-
ten Schaum der Verehrungs- und Identifikationssucht, der das Boxen wie eine
Kruste panzert, versuchen sie dadurch zu brechen, dass sie die Wissensform des
Komischen aktivieren, die durchaus, wie später noch gezeigt werden wird, in das
Monströse und Absurde kippen kann. „Und wie eitel er war!“91, lässt Ödön von
Horváth in der Textvignette Vom unartigen Ringkämpfer einen Sportler vor den
Spiegel treten, vor „dem er gar gerne, manchmal sogar schäkernd, seine Muskeln
spielen lieߓ92. Die zu mystischer Schablone erstarrte Gestalt des Boxers wird
in den fiktional-literarischen und dokumentarisch-journalistischen Texten der
elaborierten Literatur nicht mehr als muskelbepackter Sportsmann dargestellt,
sondern als eine Figur, an der sich exemplarisch Diskrepanzen und Differenzen
qua satirischer Enthüllung zeigen lassen: „Anders als mit Witz und Satire, Spott
und Ironie ist der dumpfen Feierlichkeit, die der Sport unter seinen Anhängern
verbreitet, […] offenbar schwer Einhalt zu gebieten.“93 Dem Eifer und „hei-
ligen Ernst“94, mit dem sich die Unterhaltungsautoren der Propagierung und
Stilisierung des Boxens widmen, werden jene Textbeiträge gegenübergestellt,
welche die „kollektive Boxeuphorie mit ironischer, bisweilen auch sarkastischer
Kritik“95 begleiten. Boxen findet nun auf einem grotesk verzerrten Bedeutungs-
feld statt; das hochstilisierte Drama im Ring mutiert zu Posse und Persiflage.
Die dem Boxen vorgespannten Glücksversprechen werden satirischer Enthül-
lung unterzogen, die Heilserwartung an Drill, Dressur und Disziplin in Abrede
gestellt. Es ist, wie so oft, Joseph Roth, der auch das Moment des Zweifelns
am Sport in Der Kampf um die Meisterschaft erhellend hervorhebt. „Ich hege im
Gegensatz zur geltenden Weltanschauung die Überzeugung, daß der Stärkere
siegt“96, so der Ich-Erzähler in dem 1924 publizierten Feuilleton, der sich als
Exponent eines fachkundigen Sportpublikums versteht,
91 Horváth 1988b, S. 17
92 Ebd.
93 Görtz 1996, S. 348f
94 Fleig 2008, S. 133
95 Ebd.
96 Roth 1990d, S. 73 175
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440