Seite - 176 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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und anerkenne die Göttlichkeit der natürlichen Gesetze bei jeder Rauferei, ob sie
nach Regeln verläuft oder nur nach Temperament. Infolgedessen weiß ich, daß ich,
dessen Biceps – lacht, meine Zeitgenossen! – nur 21 Zentimeter Umfang hat, auch
wenn ich ein Boxer wäre, im Kampf mit einem Stärkeren unterliegen müßte. Ich
verlasse mich deshalb auf den Verstand und gebe allerdings zu, daß in Ermange-
lung dieses die Boxregeln ein halbwegs genügender Ersatz sein können.97
Bereits die Namen der fiktiven Boxer verraten auf den ersten Blick die Tendenz
zu spöttischer Typisierung. In einer zwischen Ironie und dem Dementi der Iro-
nie schwankenden Selbstbeschreibung verkündet Joseph Peintner, der Athlet aus
Klabunds Erzählung Der Boxer in der Selbstbeschreibung, sein Kampfname laute
„bayerische Wildkatze“98, und, so Peintner ungebrochen kindsköpfig weiter, sein
Vater sei ein Mühlenbesitzer, ein „ganz abscheulicher Lackl“99. Die Funktion des
Namensstolzes als ritualisierte Konvention des Boxens wird aufgebrochen; die
habituell als wichtiger Teil der Identitätsfindung offerierte Kampfnamenstaufe –
„Prenzel heißt Vernichtung“100, akzentuiert Johannes Sigleur in Männer im Ring
forsch – wird einer gezielten Banalisierung unterworfen. Die leere Gloriole des
Boxernamens markiert deutlich den Umstand, dass sich die erhoffte Individu-
alisierung per spezifische Namensgebung in ein borniertes Spezialistentum ge-
wandelt hat. „Siebenundsechzigeinhalb setzt sich, ohne Umstände, an meinen
Tisch“101, leitet sich der Name eines Boxers nach dem Kampf in Joseph Roths
Feuilleton Der Boxer von dessen Gewichtsklasse her. Ferdinand Hinterleitner, der
Boxer aus Anton Kuhs Erzählung Wie schreibt man über einen Boxer?, ist diesseits
wie „jenseits des Ozeans“102 unter dem nicht gerade Furcht und Angst evozieren-
den Namen „Die Ohrfeige“103 bekannt; durch die unbeholfene Übersetzung des
Beinamens für den transkontinentalen Gebrauch („box on the ear“104) und die
exotisch anmutenden Kampfaustragungsorte wird zudem, im diskursiven Schatten
der Kampfnamenverdrehung, die im Boxsport allseitige Ausrichtung der Weima-
rer Kulturavantgarden an Amerika einer ironischen Revision unterzogen; kausti-
sche Konnotationen schwingen in der Erlebnishysterie der Boxarena mit: „,Go on
Ferry!‘ ruft Chicago“105, wenn Hinterleitner zum Schlag ausholt: „‚Reneamniada‘
97 Ebd.
98 Klabund 1998, S. 298
99 Ebd.
100 Sigleur 1940, S. 60
101 Roth 1989a, S. 144
102 Kuh 1963, S. 71
103 Ebd.
104 Ebd.
105 Ebd.
176 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440