Seite - 192 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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des Groben und Derben verschmolzen: „Plötzlich wirbeln zwei rote Fäuste
um einen armen Kopf. Die Folge ist eine Watschen. […] Die Materie ent-
lädt sich. Irgendwo blutet eine Nase. Und noch eine. Die Nasen bluten gleich-
gültig. Waren es Nasenstüber? Nein! Es waren: upercuts. Stoische Nasen!“191
Das Duell der Athleten entpuppt sich in Der Boxer als erschöpftes Gerangel in
erweiterter Bühnenperspektive: „Irgendwann nach dem achten oder neunten
Gong erfolgt ein fürchterlicher Krach. Ein Kämpfer stürzte hin wie eine ge-
fällte Ofenbank. Infolge des Herzklopfens der Zuschauer zittert das Bier in den
Gläsern. […] Der Boxer rührt sich nicht. Unwiderruflich tot. Schad um den
jungen Mann!“192 Das Anzählen durch den Ringrichter kommentiert Roth in
der Verkleidung eines von der Brutalität des Boxens euphorisierten Ringbeob-
achters; ein strammer Seitenhieb auf die Sportbegeisterung der Zeitgenossen:
„Bei ‚zehn‘ springt er auf. Bravoklatschen brandete um seine blutende Nase.
Sieger und Besiegter stehen vereint da. Beide verneigten sich. Rührendes Bild
der Großmut und Versöhnung. Es schreit nach einem Dichter!“193 Vom Box-
sportrausch und Lebenskampftaumel lässt sich Roth auch in Der Boxer nicht
anstecken; der Autor verweist das Beziehungsgefüge der polaren Felder Boxen
und Prosa, deren Clusterwirkung bereits in den frühen 1920er-Jahren einem
geläufigen Werbeslogan entspricht, auf den ihm zustehenden Platz, nämlich
auf jenen eines randständigen Phänomens der Sportkultur – nicht nur auf diese
Weise bannt Roth das Boxen in Prosabilder der Distanz und des Komischen,
die bis heute nachwirken.
Der Zeitungsjunge Joseph in Klabunds Erzählung Der Boxer, der sich später
als Faustsportler den Kampfnamen „bayerische Wildkatze“194 gibt, wird eben-
falls mit Brutalitätsexzessen konfrontiert; der Besuch eines Nachtclubs endet im
Tumult: „Das Lokal war in dichte Tabakwolken gehüllt. Frauen und Männer,
alle auf kuriose Art herausgeputzt, brüllten, pfiffen, schrien durcheinander.“195
Joseph erblickt eine Frau, seinen „Engel“196; warum er die Frau anlache, wird
der Junge zur Rede gestellt. Darauf erhebt sich wüstes Getümmel, in dessen
Verlauf der Autor einen zentralen Bestandteil des Boxens ad absurdum führt –
das Mann-gegen-Mann-Prinzip, der Kampf zweier Opponenten, knurrend in
Angriffshaltung geduckt: „Messer funkelten plötzlich, und ein Schuß knallte“,
notiert Klabund. „Und nun begann im Dunkeln ein zäher, verbissener Kampf
191 Ebd.
192 Ebd., S. 144
193 Ebd.
194 Klabund 1998, S. 298
195 Ebd.
196 Ebd., S. 299
192 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440