Seite - 197 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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sanft die Namen Hans Breitensträters und Richard Naujoks’224, die Boxge-
wichtsklassen von Schwer- bis Weltergewicht (also von Breitensträter bis Nau-
joks) werden willkürlich gemischt. Die ironisch-polemische Sprechweise über
Boxen ist bis in die Wortebene diffundiert.
2.
Nachmessungen:
Implosion
von
Körperkult
und
Männlichkeitswahn
Funktionalisierung und Automatisierung des Körperlichen werden ebenfalls kriti-
scher Interpretation unterzogen: Die Regulierbarmachung des Körpers wird hin-
terfragt; die körperliche Konstitution des einzelnen Individuums gilt nicht mehr
als sakrosankt – der Körper stellt sich in den Texten der boxliterarischen Erzähl-
prosa zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger als ein „Organismus mit einem
Zentrum“225 dar, eher als ein Gegenstand der Psychophysiologie. Während sich
die Autoren der erzählenden Prosa vorerst aber an die forschende Vermessung der
menschlichen Anatomie machen, wird Musil aus dem Zusammenspiel von Kör-
per und Psyche am Beispiel des Boxens neue Erkenntnisse gewinnen. Der Boxer
als die „personifizierte Maschine […], die körperlich gewordene Hoffnung auf die
egalitäre Kraft der Abstraktion“226 – diese Vorstellungsfigur steht paradigmatisch
für eine Entwicklung, die in jenen Jahren ins Zentrum der öffentlichen Aufmerk-
samkeit rückt. Das 19. Jahrhundert war, dem kollektiv und weithin ausgeübten Tur-
nen nach Jahn, Mensendieck oder Müller zum Trotz227, von Körperfeindlichkeit
und Prüderie geprägt228; auf die gesellschaftliche Verbannung, welcher der „geleh-
rige Körper“229 damit ausgesetzt war, und die daran anknüpfenden Versuche der
Reglementierung von Körperaffekt und Leibbedürfnis, ist wiederholt hingewiesen
worden.230 In der Figur des Boxers erscheint die körperlich-performative Wende
im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert qua Körperstilistik und Dresscode nun
geradezu veranschaulicht: Der Körper, so Gunter Gebauer in Ethik und Sport –
Sportethik, sei die „soziale Form der Person“231, ein „Bündel gesellschaftlicher Zei-
224 Richard Naujoks (1896–1957), deutscher Weltergewichtsboxer
225 Foucault 2002, S. 98
226 Müller 2004, S. 41
227 Zu den populären Körperformungsschulen von Mensendieck und Müller vgl. Schievelkamp
1920, S. 196; Maase 2007, S. 97; Meyer 1980, S. 28 u. Fischer 1999, S. 45ff
228 Vgl. Marschik 2009, S. 23f; Kolb 2009, S. 226
229 Foucault 1977a, S. 173
230 Vgl. Elias 1997, S. 266–315; Theweleit 2009, Bd. 1, S. 236–303; Foucault spricht in Überwachen
und Strafen vom „Fest der Martern“ (Foucault 1977a, S. 44) und von der „Zusammensetzung der
Kräfte“ (ebd., S. 209)
231 Gebauer 2009, S. 208 197
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440