Seite - 215 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Sharkey vier Zentimeter mehr Taillenweit hat als Schmeling, wird dadurch ausge-
glichen, daß Schmeling zwei Zentimeter Genickumfang mehr als Sharkey hat“. Die
Gewalt also, die das „Seelische“ bereits ohnehin in allen Boxkämpfen ausübt, ver-
größert sich selbstverständlich durch den mächtigeren Genickumfang Schmelings,
dieweil die vier Zentimeter Taillenweite des Amerikaners das ohnehin bei Box-
kämpfen zu Niederlagen verurteilte „Materielle“ auch nicht mehr retten können.356
Es sei daher mehr als verständlich, so Roth weiter, dass gewisse Fragen schlaflos
machten, Fragen wie diese: „Wenn sich die amerikanischen Herzen – und ihrer
sind mehr – ebenfalls mit aller Kraft des Glaubens gegen den Sieg des Deut-
schen sträuben, besteht da nicht die eminente Gefahr, daß sie schließlich zu den
vier Zentimetern Taillenweite Sharkeys auch noch etwa neunzig Prozent des
‚Seelischen‘ gewinnen?“357 Zwischen Boxen, dem Schauplatz körperlicher und
kämpferischer Repräsentation, und dem Seelisch-Geistigen, das den satirischen
Angriff auf die überspannte Vaterlandsliebe markiert, folgert Roth, bestehe da-
her folgendes Abhängigkeitsverhältnis: Während
unsere deutschen Herzen, dank der Güte der Natur, auf den Schlaf verzichten
müssen, um sich gegen die Niederlage Schmelings ununterbrochen zu sträuben,
ist es den Herzen der Amerikaner, vorausgesetzt, daß sie überhaupt unserer An-
sicht sind: das Seelische habe Gewalt über das Materielle, lediglich gestattet, sich
im wachen Zustand gegen einen Sieg Schmelings zu sträuben: da sie ja zu einer
Stunde wach sein müssen, in der wir den Vorzug genießen, schlaflos sein zu dürfen.
Und also haben wir im „Seelischen“ schon von vornherein einen Punkt vor den
Amerikanern voraus!358
Roth diskreditiert den patriotischen Chauvinismus souverän als flüchtigen Ein-
druck, der die Sportwelt über alle nationalen Grenzen hinweg in Atem hält:
Nationalisierter Boxsport wird als Konstrukt von Stereotypen und Vorurteilen
kenntlich gemacht. Bietet da, wie Musil in einem vermutlich um 1914 entstan-
denen Essay formuliert, der „menschliche Ast der Religion“359 wenigstens Halt?
Religiöse Überzeugung als Orientierungshintergrund und Identifikationsan-
gebot hat in den 1920er-Jahren weitestgehend ausgedient: „Sport ist die eigentlich
zeitgemäße Religion“, deklamiert Adolf Uzarski in Beinahe Weltmeister, „Sport ist
356 Roth 1991b, S. 413f (Hervorh. im Orig.)
357 Ebd., S. 414
358 Ebd.
359 Musil 1978p, S. 1337 215
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440