Seite - 240 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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für Ablenkung sorgen; Brecht greift dafür auf das Sinnbild der therapeutischen
Wirksamkeit von Kälteeffekten zurück, die kurativen Schauder auslösen sol-
len.24 Boxen dient Brecht nicht allein dazu, tendenziöse Wirkungsabsicht im
Topos des Faustkämpfens zu verankern. Dem Modus der anklagenden Argu-
mentation fühlt sich der Autor nicht verpflichtet. Dem erweiterten diskursiven
Bereich des Boxens nimmt sich Brecht auch in dem Gedicht Verschollener Ruhm
der Riesenstadt New York an. Am 24. Oktober 1929 brechen an der New Yorker
Börse die Wertpapierkurse zusammen – der Autor reagiert darauf mit der satiri-
schen Enthüllungskraft des Topos Boxen. „Was für Menschen!“, notiert er: „Ihre
Boxer die stärksten!“25 Und weiter, mitten in der Hochkonjunktur des Boxens in
den USA: „Noch finden Weltmeisterschaftskämpfe vor ein paar zerstreut / sitz-
engebliebenen Zuschauern statt: // Der jeweils stärkste Mann / Kommt nicht
auf gegen das geheimnisvolle Gesetz / Das die Menschen aus den gestopft vol-
len Läden treibt!“26 Die Disparatheit der Epoche findet sich in der Disparatheit
des Boxens wieder; Boxen besteht für den Autor aus regelrecht zirkulierenden
Diskurs- und Praxissplittern. Brecht nimmt sich der Unübersichtlichkeit des
Boxens dankbar an. Deshalb greifen auch jene Analysen zu kurz, die Brechts
Boxleidenschaft im Sinne von Motivuntersuchungen in den Mittelpunkt rü-
cken. Wolf-Dietrich Junghanns hat aus gutem Grund die engeren Bahnen der
Brecht-Forschung bereits 1998 verlassen und die Boxbefassung des Autors in
unterschiedliche Interpretationsbereiche gegliedert:
Attitüde des Bürgerschrecks und des Machismo […]; […] Faszination des moder-
nen, großstädtischen Amerikas […]; […] Neid des Theatermachers auf die An-
ziehungskraft der Boxarenen und das Masseninteresse an Sportveranstaltungen,
die wirkliche Dramen boten[;] […] Bewunderung für die vorbildlich sachkundig
und kritisch urteilenden Zuschauer […]; […] Boxgeschäft als Lehrstück kapita-
listischer Ökonomie; […] Zweikampf-Konstellation, die eine Dramatisierung von
Klassenkämpfen gestattete; […] Box-‚Ring‘ als ein der Bühnen vergleichbare[r]
theatralischer Ort.27
24 Der Philosoph und Publizist Theodor Lessing wird vier Jahre später, 1926, eine Psychologie des
Rauchens entwerfen, in der er dem Boxer, der zum Entscheidungskampf antritt, einen „Zug aus
der Zigarette“ nahelegt: „Man könnte glauben, dieses sei nur ein schöner Gestus. Er solle besa-
gen:
‚Du siehst, ich bin furchtlos. Ich habe meine Nerven beisammen. Mir ist alles Wurst.‘ Aber
es handelt sich um mehr. Rauchen ist wirklich das einzig mögliche Mittel, um Leidenschaften
zu unterdrücken.“ (Lessing 1986, S. 142)
25 Brecht 1988a, S. 247
26 Ebd., S. 249
27 Junghanns 1998, S. 56
240 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440